Die unglaubliche Flucht des Abdirahman Abdul Kadir

14. September 2018, Marlon Rusch
Abdirahman Abdul Kadir: Aufgeweckt, freundlich, engagiert. Foto: Peter Pfister
Abdirahman Abdul Kadir: Aufgeweckt, freundlich, engagiert. Foto: Peter Pfister

Von 500 Menschen auf einem maroden Schlepperkahn überlebten nur 80 die Überfahrt von Libyen nach Europa. Einer von ihnen war ein 16-jähriger Somali. Sein Glück: Er trug keine Schwimmweste.

Gegen 2 Uhr in der Nacht auf den 27. Mai 2016 steht Abdirahman Abdul Kabir im Unterdeck eines maroden Holzboots knietief in Salzwasser und ist dem Tod näher als dem Leben. Mit sechs aufgeschnittenen PET-Flaschen versuchen er und andere Geflüchtete, die Arbeit zu verrichten, für die eben noch eine alte Pumpe zuständig war: Sie schöpfen Wasser aus dem Boot. Dem Generator ging nach wenigen Stunden auf See der Diesel aus, die Schlepper hatten gespart. Also füllen die Männer die Flaschen mit Wasser, reichen sie aufs Oberdeck, wo andere Männer sie auskippen und wieder runter reichen. Sie haben keine Chance.

Draussen dunkle Nacht. Die Menschen versuchen, ein Notsignal abzusenden, doch sie wissen nicht, ob die Übermittlung klappt. Das Boot, löchrig wie ein Sieb, läuft voll, kippt. Die 500 Passagiere rennen panisch von der einen Seite auf die andere. Es nützt nichts.

Es hat etwas Unwirkliches, sich diese Geschichte anzuhören. Der aufgeweckte Mann, der sie erzählt, ist gerade 19 Jahre alt geworden, trägt Sneakers, Jeans und Hemd und schützt sich im Kreuzgang des Allerheiligen vor der Sommerhitze. Er ist «vorläufig aufgenommen», lernt im SAH Deutsch; wenn er ein Wort seines Gegenübers nicht versteht, fragt er nach. Es kommt nicht oft vor. Er lächelt viel, erzählt, dass er Maler werden möchte oder Logistiker. Kürzlich habe er schnuppern können bei Georg Fischer. Heute hat Abdirahman Abdul Kadir eine Perspektive.

Handschellen in Kenia
Als er mit 16 Jahren in Somalia einen Bus nach Kenia bestieg, sah die Situation anders aus. Kurz davor hatten Al-Shabaab-Milizen seinen Vater ermordet. Die Mutter kratzte Geld zusammen und schickte Abdirahman auf die Reise. Für mehr als eines ihrer Kinder hat es nicht gereicht. Fragt man Abdirahman Abdul Kadir nach der Anzahl seiner Geschwister, beginnt er mit beiden Händen zu zählen.

In Kenia, erzählt er emotionslos, sei er erstmals in Handschellen gelegt worden. Danach sei es mit dem Lastwagen weitergegangen in den Südsudan – «ein neues Land!» Dann stoppt er: «Das ist wie ein Interview. Ich habe schon einmal ein Interview gegeben.»

Abdirahman Abdul Kadir verfügt über einen gesunden Skeptizismus. Könnte es ihm zum Nachteil gereichen, wenn in der Zeitung eine Geschichte erscheint, die nicht in allen Details mit der Geschichte übereinstimmt, die er beim Eintrittsgespräch dem Staatssekretariat für Migration erzählt hat? Dauerte die Reise von Somalia in den Südsudan 8 oder 9 Wochen? Waren 500 Menschen auf dem Schiff oder waren es vielleicht doch nur 450?

Er möchte sehen, was ich in mein Notizbuch schreibe. Er möchte das Bild sehen, das der Fotograf von ihm gemacht hat und das abgedruckt werden soll. Er ist fordernd, doch stets höflich, stets mit diplomatischem Gespür – obwohl er sich erst an die Schweizer Umgangsformen gewöhnen muss.

Manchmal will er nicht in die Details gehen. Wieso die Handschellen in Kenia? Immer wieder spricht er davon, dass er «Probleme» bekommen habe. Dann wieder zeigt er freimütig Narben auf seinem Körper.

Folter in Libyen
Im Sudan, so der Teenager, sei er von einem Schlepper angesprochen worden, der ihn nach Libyen mitgenommen und dort mit vielen anderen Flüchtlingen eingesperrt habe. Wenn sie die geforderten 8’000 Franken nicht hätten bezahlen können, seien sie geschlagen worden, manchmal wochen- und monatelang gefesselt, bis sie krank geworden seien. Manche seien erschlagen worden – Abdirahman sagt, er habe es mit eigenen Augen gesehen.

Er selbst hatte auch kein Geld. Die Schlepper hätten ihn immer wieder mit seiner Mutter telefonieren lassen und ihn währenddessen geprügelt, um sie dazu zu bringen, das Geld aufzutreiben. Schliesslich habe sie, nach einigen Wochen, 5’000 Dollar überweisen können.

Einige Tage später sei er ans Meer gefahren worden, habe eine Schwimmweste kaufen können, doch diese sei ihm von den Schleppern wieder abgenommen worden. Sie dürften ihm damit das Leben gerettet haben.

Als sich die Wetterlage nach einigen Tagen verbesserte, sollte das Boot kurz nach Eindunkeln in See stechen. Es war der 26. Mai 2016. Doch der Motor sprang nicht an. Er musste zuerst von einem der Geflüchteten repariert werden. Die Schlepper hatten die Hunderten von Menschen längst sich selbst überlassen. Dann ging die Reise los.

Kälte im Mittelmeer
Einige Stunden später findet sich Abdirahman Abdul Kadir im Wasser wieder, mitten in der Nacht, mitten im kalten Mittelmeer. Um ihn herum Panik und lose Teile des gesunkenen Flüchtlingsbootes.

Die meisten der 500 Menschen können nicht schwimmen, viele sterben in den ersten Minuten. Die zehn Menschen, die Schwimmwesten tragen, kommen allesamt um, weil sich andere Ertrinkende in der Not an sie klammern und sie unter Wasser gezogen werden. Er selbst habe schon als kleines Kind schwimmen gelernt. Doch wenn er versuchen würde zu helfen, würde ihm dasselbe passieren.

Auch diese dramatische Nacht beschreibt der junge Somali nüchtern. «Nur einem Mann konnte ich helfen», sagt er. Er habe ihm ein Holzstück gegeben.
Irgendwann sei plötzlich ein Helikopter über ihnen gekreist, der Schwimmwesten für die halb erfrorenen Überlebenden abgeworfen habe. Kurz darauf seien Rettungsboote aufgekreuzt und hätten rund 80 Überlebende an Bord genommen und nach Italien gefahren.

Die Medienberichte zur Seerettung geben kein einheitliches Bild. An manchen Orten wird von «einer der grössten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer» mit Hunderten Toten berichtet, andernorts werden 20 Todesopfer und eine unbekannte Anzahl Vermisste beklagt. Erschwerend kommt hinzu, dass an besagtem Tag gleich mehrere Flüchtlingsboote kenterten. Die Details von Abdirahman Abdul Kadirs Geschichte lassen sich nicht zweifelsfrei überprüfen, doch das ist auch gar nicht so wichtig.

Zug in die Schweiz
«Ich habe viele Menschen sterben sehen», sagt er. Dennoch: bis anhin hat er im Grund genommen Glück gehabt. Nach einigen Wochen in Reggio Calabria, ganz im Süden Italiens, wo er mit vielen anderen in einer kleinen Wohnung geschlafen hatte, traf er einen Somali, der in Italien lebt. Dieser habe ihm ein Zugbillett in die Schweiz gegeben. Ohne von der Polizei behelligt zu werden, sei er bis Chiasso gefahren. Dort sei er ausgestiegen, habe aber geglaubt, er befinde sich noch immer in Italien und habe den nächsten Zug zurück nach Milano bestiegen. Abdul Kadir lacht, als er die Episode erzählt. Beim zweiten Anlauf klappte es, der Polizei begegnete er erst im Bahnhof in Chiasso. Von dort ging der Weg über das Asylzentrum Kreuzlingen nach Buch, wo er im August 2016, vor ziemlich genau zwei Jahren, ankam.

Doch wie kann ein junger Mann, weit weg von seinem Zuhause, weit weg von seiner Familie und seinen Freunden, ein neues Leben aufbauen, wenn er eine Geschichte erlebt hat wie Abdirahman Abdul Kadir?

«Ich spreche nicht über meine Gefühle», sagt er. Er wolle auch nicht darüber nachdenken, was alles passiert ist. Vielleicht, denkt man sich, ist die Zeit dafür noch nicht reif. Heute setzt der junge Mann auf Zuversicht. Er hoffe, eines Tages seine Familie in die Schweiz holen zu können. Dass es dafür derzeit keine rechtliche Grundlage gibt, erschüttert ihn nicht. Wiederholt sagt er, er wolle sein Deutsch weiter verbessern. «Anfang 2019 will ich B1 haben.» Und eben, die Lehrstelle … Man würde ihm zutrauen, sehr bald eine zu finden.