Im Kampf gegen «faschistische Unterweltsgestalten» und die «Gaulafs der Frontfaschisten» langten frühere «az»-Redaktoren schon mal selbst zu. Chefredaktor Georg Leu wurde 1934 «wegen Raufhandel» verurteilt. Der Preis: 100 Franken Geldstrafe und ein Zahn.
Es ist der 9. Januar 1934. Um 8 Uhr früh beginnt eine Verhandlung im Schaffhauser Kantonsgericht. Georg Leu sitzt auf der Bank des Angeklagten. Dunkle Augenbrauen prägen Leus Gesicht, das trotz seiner erst 32 Jahre tiefe Furchen aufweist. Von seiner Oberlippe, etwas links, zieht sich eine markante Narbe Richtung Nase.
Selbst ein Rossdoktor müsste erkennen, dass die Verletzung nicht mit einem Rasierunfall zu erklären ist.
Der Gerichtspräsident fragt Leu, ob man berechtigt sei, «mit der Faust auf einen Menschen einzuhauen». Georg Leu antwortet trocken: «Es kommt darauf an, was für Menschen man vor sich hat. So kann man von diesen Leuten alles erwarten, jeder hatte ja auch eine Pistole in der Tasche.» Dann schildert Leu den Tathergang: «Ich ging auf ihn zu, er fasste mich am Mantel, riss den Revers ab und da schlug ich ihn, das gehörte ihm auch.»
Grosses Gelächter im vollen Gerichtssaal – Leu hat Kind und Kegel für die Verhandlung mobilisiert.
Redaktor als Arbeiter
«Der Antifaschisten-Prozess» titelt die «Arbeiter-Zeitung» am Tag der Gerichtsverhandlung. «Sechs antifaschistische Arbeiter sollen verurteilt werden, weil sie die nationalsozialistische Spitzeltätigkeit aufdeckten und verhinderten, sich gegen die mit Revolvern bewaffneten Agenten zur Wehr setzten und sie unschädlich machten.» Etwas weiter unten ist zu lesen, dass sich die Spitzel «in Schaffhausen herumtrieben, um ihre bunten Entführungspläne gegen führende Funktionäre der Arbeiterbewegung zu organisieren».
Diese Zeilen stammen aus Georg Leus Feder. Der Chefredaktor der «az» ist der Hauptangeklagte dieser «sechs antifaschistischen Arbeiter». Neben ihm sind zwei Hilfsarbeiter, ein Maurer, ein Schreiner und ein Giesser angeklagt. Leu hatte sie als Verstärkung organisiert.
Die Staatsanwaltschaft plädiert auf zehn Tage Gefängnis für Georg Leu «wegen Hausfriedensbruch und Raufhandel».
Georg Leu – der Vater ein einfacher Tagelöhner, er selbst macht die Lehre in der IWC, dann Büez in einer Färberei – steigt 1932 als Redaktor bei der «Schaffhauser Arbeiter-Zeitung» ein, wo er bis 1946 bleibt. Ausserdem sitzt er von 1921 bis zu seinem Tod im Jahr 1974 im Verwaltungsrat der Unionsdruckerei, welche die «az» zu dieser Zeit herausgibt.
Schon früh kämpft Georg Leu gegen – seine Wortwahl – «faschistische Unterweltsgestalten» und «Gaulafs der Frontfaschisten». Zum einen gegen die Nationalsozialisten in Deutschland, zum anderen gegen die Nationale Front, eine faschistische Partei in der Schweiz, die in den 1930er-Jahren besonders in Schaffhausen erfolgreich ist. Der selbsternannte «Gauleiter» Rolf Henne zum Beispiel holt bei den Schaffhauser Ständeratswahlen von 1933 über 27 Prozent der Stimmen.
Der kräftig gebaute Leu schreckt auch nicht davor zurück, selbst zuzulangen, wenn es ihm nötig erscheint. Darauf wirft der «Antifaschisten-Prozess» vom 9. Januar 1934 ein Schlaglicht.
Den Nazis «einen aufbinden»
Alles beginnt mit einer Serviertochter namens Schuler, die im Rosengässli Nummer 10 in Schaffhausen wohnt. Vor Gericht bezeugt sie Folgendes: Im Oktober 1933 wird sie von zwei unbekannten Deutschen angesprochen. Sie stellen ihr eine grosszügige Bezahlung in Aussicht, sollte sie ihnen «die Namen der leitenden Persönlichkeiten in der Kommunistischen Partei (Opposition) sowie derjenigen Personen bekannt geben, die auf der ‹Arbeiter-Zeitung› beschäftigt sind». Überdies soll Frau Schuler «in Arbeiterwirtschaften Beobachtungen anstellen, um herauszufinden, was für Leute […] mit der kommunistischen Partei in Verbindung stehen» und wer «den Schmuggel verbotener Druckschriften nach Deutschland» organisiere.
Die beiden Deutschen geben Frau Schuler einen Vorschuss von zehn Franken, dann ziehen sie wieder ab. Der Serviertochter kommt dies merkwürdig vor, weshalb sie «az»-Redaktor Georg Leu davon berichtet.
Leu erkennt, dass es sich hierbei um nationalsozialistische Spitzel handeln muss. Zu Frau Schuler sagt er, «man solle den beiden einen aufbinden», um sie in eine Falle zu locken und dann der Polizei zu übergeben. Also meldet Schuler den Deutschen am 8. November 1933, «dass Redaktor Leu mit zwei Genossen am folgenden Tag von Trasadingen aus einen Schmuggelgang mit illegalen Druckschriften durch die Reben nach Erzingen ausführen wird». Die Details würde sie den Deutschen in ihrer Wohnung erzählen.
Gegen Abend erscheinen die beiden Deutschen, übrigens zwei höhere Zollbeamte aus Radolfzell mit den Namen Bächlin und Lorenz, im Rosengässli. Und Frau Schuler «bindet ihnen einen auf». Beim Abschied verspricht der eine Spitzel «einige hundert Mark Belohnung, falls sich ihre Aussagen als richtig erweisen sollten». Weit sollten die Zöllner Lorenz und Bächlin jedoch nicht kommen.
In der Zwischenzeit hat Georg Leu fünf junge Männer zusammengetrommelt. Während er sich in der Wohnung oberhalb von Frau Schuler versteckte, warteten seine Genossen unten beim Hauseingang. Als die Deutschen das Haus verlassen wollen, steigt ihnen Leu nach. Im engen Gang kommt es zu einer Keilerei. Leu packt den Zollbeamten Bächlin. Der andere, Lorenz, versucht zu flüchten, wird aber beim Ausgang aufgehalten. Beide Spitzel tragen ihre Dienstwaffen bei sich.
Die «Schaffhauser Nachrichten» schreiben dazu: «Die Aussagen über den Verlauf dieser Schlägerei gingen wesentlich auseinander.» Fest steht einzig: Nach dem Rencontre mit Georg Leu ist Spitzel Bächlin gemäss Gutachten «schwer verletzt». Er erleidet «eine Schädigung an Körper und Gesundheit von 2–3 Wochen».
Gerüchten zufolge verliert Georg Leu einen Zahn bei der Schlägerei, wovon die Narbe über seiner Oberlippe zeugt. Möglich ist jedoch auch, dass er sich die Schramme bei einer späteren Keilerei holt.
«Wo es hintraf»
Bei der Gerichtsverhandlung zwei Monate später, am 9. Januar 1934, werden neben Leu auch die von ihm aufgebotenen Genossen verhört. Einer von ihnen, der unten beim Hauseingang gewartet hat, sagt gemäss Berichterstattung der «az» Folgendes aus:
Genosse: «Zur Schlägerei kam es erst, als Lorenz hinausdrängte und ich ihm sagte: ‹Hier geblieben.› Lorenz griff in die Tasche und ich glaubte, er will die Pistole ziehen, da habe ich mit dem Gummiknüppel auf ihn geschlagen.»
[Gerichts-]Präsident: «Wohin haben Sie geschlagen?»
Genosse: «Wo es hintraf.»
(Gelächter.) […]
Präsident: «Sie haben auf Lorenz losgedroschen, als er an der Wand stand?»
Genosse: «Jedesmal, wenn er in die Tasche greifen wollte, servierte ich ihm eine.»
(Lachen.)
Während die nationalsozialistischen Spitzel mit einer einjährigen Einreisesperre in die Schweiz belegt werden, muss Georg Leu eine Geldstrafe von 100 Franken zahlen, «wegen Körperverletzung, begangen im Raufhandel.»
Davon lässt sich der Redaktor nicht beirren. Weiterhin kämpft er gegen den grassierenden Faschismus, sei es nun in der Schweiz oder in Deutschland. Schaffhauser Frontisten klagen ihn mehrmals wegen Verleumdung und Beschimpfung an. 1943 wird er sogar vom Bundesrat gerügt, weil er über die «braune Bestie» in Deutschland herzieht.
Über die Nationale Front schreibt er im Juni 1934 in der «az»: «Herr Dr. Henne [der «Gauleiter» der Frontisten] lässt es ruhig geschehen, dass in seinem Blättchen jeder Nazikohl abgedruckt wird, und zwar in einer Fassung, dass der Leser vielfach der Meinung sein muss, der ganze Salat stamme aus der Goebbelschen Küche.»
Ein Jahr später, nachdem Frontisten eine Versammlung der Arbeiterschaft sprengen wollten, wird Leu noch deutlicher: «Wehe dem Frontisten, der sich […] auch nur die leiseste Provokation erlaubt hätte. Wehe dem Nazi-Sprechchor und den mit Stahlruten ausgestatteten Schlägern, wenn sie auch nur gemuckt hätten. […] Diese Herren mögen es sich gesagt sein lassen, die Arbeiterschaft wird gleiches mit gleichem vergelten und ihre Fäuste führen eine derbe Sprache.»
Allerdings: Weder die Keilerei im Rosengässchen noch die angriffigen Artikel haben Georg Leu offenbar geschadet. 1946 wird er für die SP in den Regierungsrat gewählt, dem er als Sanitäts- und Polizeidirektor bis 1960 angehört.
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100 Jahre «az»
Die Serie 100 Jahre «az» befasst sich in den kommenden Monaten bis zum runden Jubiläum im November 2018 periodisch mit der turbulenten Geschichte unserer Zeitung. Sie soll einen Vorgeschmack geben auf das grosse Jubiläumsbuch des Historikers Adrian Knoepfli, das diesen Herbst erscheinen wird.
Zuletzt lasen Sie: Überleben in der Anfangszeit – «Der Gschäftlihueber», «az» vom 16. August (nur Print).