Dutzende Künstlerinnen und Künstler zeigen, wie man im Städtli auch gross denken kann.
Ein Mittdreissiger steht in der Mittagshitze vor dem Eingang der Kammgarn West, zieht an einer Selbstgedrehten und seufzt. Der Mann ist sichtlich am Ende. Diese weisse Wand, wegen der er vor zwei Wochen eigens von Berlin angereist ist, wegen der er seither in den ehemaligen Industriehallen isst und auf einer Campingmatte schläft, wegen der er in der Rhybadi duscht und die er seither Tag und Nacht mit Pinseln bearbeitet – diese viel zu grosse Wand hat sich als hintertriebener Antagonist entpuppt, als unzähmbarer Bastard.
Der Mann ist Profi, Maler seit vielen Jahren, stellt permanent aus, organisiert Kunstfeste, ist Musiker, Szenebeizer – so was nennt man wohl «arriviert». Doch das alles ist der Wand ziemlich egal.
Die Frau, die ihm Trost und Hoffnung spendet, die tagtäglich durch die ehemaligen «Hallen für Neue Kunst» wandelt und Mut verströmt, hört auf den Namen Ana Baumgart, ist ebenfalls eigens aus Berlin angereist, schläft seither in ihrem VW-Bus auf dem Kammgarn-Parkplatz und kuratiert die Ausstellung «Das Kapital ist weg – Wir sind das Kapital!». Es ist das derzeit aufregendste Kulturprojekt der Region.
Hinter der Ausstellung steckt der Schaffhauser Kulturverein «Zwischenraum», der in den Vorjahren unter dem Namen «Tempogarage» bereits zweimal ein baufälliges Haus an der Fischerhäuserstrasse vorübergehend in eine verspielte Kunstoase verwandelt und der Stadt damit gezeigt hat, wie Zwischennutzung geht.
Nun denkt «Zwischenraum» grösser. Und das manifestiert sich nicht nur in der schieren Grösse und Erhabenheit der zwei Stockwerke der ehemaligen Hallen, die das Kollektiv bespielt, und an der Zahl, der Qualität und dem Renommee der Künstlerinnen und Künstler, die von nah und fern angereist sind, um das Erbe von Beuys, Kounellis, Merz und LeWitt anzutreten.
Die Hebamme
Der Sprung zeigt sich auch an der Figur der Ana Baumgart, an der temporären Vollzeitstelle der künstlerischen Leiterin, der externen Kuratorin, die für ihre Arbeit auch einen kleinen Lohn bekommt.
«Ich fühle mich wie eine Hebamme in einem Kreisssaal mit 30 Gebärenden», sagt die 32-Jährige beim Vorabrundgang. Seit Wochen sind die Hallen in erster Linie Werkstatt. Einige Künstlerinnen arbeiten vor Ort, leben vorübergehend hier. Wie der Mann aus Berlin, über dessen Wand Baumgart sagt: «Wenn’s wirklich nicht klappt, schreiben wir halt gross FAIL darüber oder zeigen den ganzen Tatort, wie er jetzt ist. Mit Tuben, Pinseln, Dachlatten.»
Die Hebamme will nicht nur die kerngesunden Neugeborenen zeigen, die Elternherzen schmelzen lassen. Diskurs geht über Ästhetik, so das Motto der Ausstellung. Klar, mit derartigen Phrasen wird Kunst beileibe nicht neu erfunden. Doch in der sprudelnden Frau spürt man diesbezüglich eine erstaunliche Konsequenz. Und die zeigt sich auch an diversen Ecken und Enden der weitläufigen Hallen.
So ist das Herzstück der Ausstellung nicht etwa eine besonders bedeutende Installation, sondern eine interaktive Bar. Über Sensoren in den Sitzbänken kann die Besucherin Klänge erzeugen. Ein Zufallsgenerator am Tresen definiert den Bierpreis; und wer damit nicht einverstanden ist, kann, ja soll mit dem Barpersonal verhandeln. Diskurs geht über Geld.
Der Titel der Ausstellung, «Das Kapital ist weg – wir sind das Kapital!», ist nicht nur eine provokante Ansage. Er ist auch ein Überthema: Wie, wenn nicht monetär, kann sich der Wert einer Sache, einer Dienstleistung sonst noch ausdrücken? Was ist überhaupt der «Wert» einer Gesellschaft?
Gezimmert und betoniert hat die Bar der 21-jährige Schaffhauser Linus Maurmann. Sie steht im Raum, den bis vor vier Jahren Beuys’ «Kapital» ausfüllte. Auf Maurmann folgt Yves Netzhammer.
Falsche Ehrfurcht kommt deshalb keine auf. Neben Maurmanns Barfragmenten hängt derzeit ein handgekritzelter Zettel: «Linus Beuys». Der Grat zur Blasphemie wird bewusst schmal gehalten, doch die jungen Künstlerinnern und Künstler bewegen sich darauf absolut trittsicher.
Wer hat Angst vor Kunst?
Sie sind heute nicht mehr 25, und sie wollen nicht mehr jung und wild sein. Zumindest nicht mehr nur jung und wild. Es gehe darum, die Menschen «ans Museale ranzuführen». So sagt es der Künstler Michael Stoll, Kreativkopf hinter dem Projekt, in Berlin wohnhafter Schaffhauser mit einem riesigen Rucksack voller Ideen für seine Heimatstadt.
Was er wunderbar eingänglich und enthusiastisch erklären kann, versucht ein Spruch zusammenzufassen, der im Eingang der Ausstellung hängt: «Kunst für all jene, die Angst vor der Kunst haben!»
In den beiden Stockwerken sollen sich in den kommenden drei Wochen angesehene Kunstsachverständige ebenso wohlfühlen wie Jungspunde mit einem Faible für lokale Mikrobrauereien. «Kunst und Leben müssen zusammenkommen», sagt Ana Baumgart. «Es wird laut werden. Aber es gibt auch Oropax.»
Die Leitfrage des Vereins war: Wie kann ein junges Künstlerteam diese Hallen so bespielen, dass es nicht handgestrickt ist, sondern ernst – und doch niederschwellig?
Grundlage dafür ist ein ziemlich hochwertiges Line-up mit 30 Namen. Da ist die Lokalprominenz: eine fahrende Kamera von Andrin Winteler, ein Brotstuhl von Alexandra Meyer, ein marokkanisches Teenie-Jimi-Hendrix-Fanzimmer von Fabian Stamm. Da gibt es schweizweit bekannte Namen wie Isabelle Krieg. Da gibt es Fraktionen von Berlin und Bremen, beeindruckendes Niveau, die Kuratorin Baumgart hat sorgfältig selektioniert.
Da koexistieren auf den zwei Stockwerken eine in Silber gegossene Honigbiene mit einem Pornokino, einer zusammensackenden Hüpfburg, einer Gebäudesprengung und riesigen Wandbildern eines Künstlerduos aus Argentinien und Italien, das monate- und nächtelang Motive konzipiert und gemalt hat, die sich eigens an Schaffhauser Architektur orientieren, mit Hunderten Verweisen, angetrieben von Etymologie, Religion, ausschweifender Recherche.
«Und alle sind sie total begeistert von der Möglichkeit, in solch riesigen, geschichtsträchtigen Hallen ausstellen zu können», sagt Baumgart. In Berlin wäre so was undenkbar. Dafür wäre es in Berlin problemlos möglich, punktuell den öffentlichen Raum rund um die Hallen herum zu bespielen. Man tut es einfach. In der Schweiz mit all ihren Regularien praktisch ein Ding der Unmöglichkeit.
Allianzenschmiede
Bürokratie. Am Umgang mit ihr lässt sich der Professionalisierungsgrad einer Organisation ziemlich verlässlich ablesen. Und in diesem Projekt steckt sehr viel davon. Stoll sagt: «Wir sind zwar ein Kollektiv, mussten uns aber ähnliche Fragen stellen wie ein Unternehmen.» Vier Monate hat der Verein allein mit der Stadt verhandelt, um die Hallen zu bekommen. Das Projekt musste einen politischen Prozess durchlaufen. Zehntausende Franken Sponsorengelder wurden gesammelt, Tausende E-Mails versendet, rund 5’000 Arbeitsstunden dürften in dem Projekt stecken, rechnet das zur Ausstellung erscheinende Magazin vor. Die Kunst ausgeklammert.
Der Verein merke aber auch, dass in den sechs Jahren seit der ersten Ausstellung in der «Tempogarage» ein Lernprozess stattgefunden habe. Zum einen bezüglich Kommunikation und Abläufen, zum anderen auch ganz praktisch.
Da musste etwa Strom reingezogen werden in die alten Hallen, da wurden alte Steckdosen von Mario Merz reaktiviert. Man könnte jetzt beliebig weiter und weiter erzählen. Vereinspräsident Patrick Werner ist längst so was wie der inoffizielle Hausmeister der ehemaligen Hallen für Neue Kunst, kennt das Gebäude wie kein Zweiter. Mittlerweile meldet sich die Stadtverwaltung bei ihm, wenn sie etwas will – nicht mehr umgekehrt.
Neben dem Magazin gibt es einen Katalog, verschiedene thematische Führungen zur Kunst, zur Architekturgeschichte des Ortes, Vorträge von Dichtern. «Wir wollen, dass nicht nur Kunstnerds vermitteln», sagt Michael Stoll. Und das Projekt stösst auf Resonanz. «SRF» wird berichten, gestern kam die «WOZ», Kuratoren von bedeutenden Museen verschiedener Kantone haben ihr Kommen angemeldet. «Es ist durchaus möglich, den Standort Schaffhausen zu vermarkten», sagt Stoll verschmitzt.
Vernissage: Freitag, 24 August, 20 Uhr, Kammgarn West. Bis 15. September, Freitag/Samstag (18-23 Uhr) und Sonntag (14-18 Uhr).