Ein Bankenskandal

20. August 2018, Kevin Brühlmann
Im Keller des KB-Hauptsitzes lagerten früher alle wichtigen Dokumente seit der Gründung 1883. Jetzt ist das Archiv praktisch leer.

Die Schaffhauser Kantonalbank hat ihr gesamtes Archiv aus 130 Jahren kürzlich durch den Schredder gejagt. Und niemand wusste davon. Die Politik hat es verpasst, der Vernichtung einen Riegel vorzuschieben.

Er erinnert an einen alternden Haifisch, dem langsam die Zähne ausfallen: Der Hauptsitz der Schaffhauser Kantonalbank an der Vorstadt 53 ist nicht gerade schön. Noch unschöner sind aber die Dinge, die dort im Keller geschehen.

Irgendwann in den letzten zehn Jahren müssen hier ein paar Entsorgungs­fachleute nahe an einem Hexenschuss vorbeigeschrammt sein. Auf Anordnung von oben vernichteten sie praktisch das gesamte Archiv der Bank, das während Jahrzehnten im Keller des Hauptsitzes lagerte.

Und 130 Jahre Bankengeschichte, Schweizer Bankengeschichte insbesondere, wiegen schwer.

Wie es zur totalen Geschichtsbereinigung der 1883 gegründeten Schaffhauser Staatsbank kommen konnte, ist nach wie vor unklar. Fest steht einzig: Als der heutige Direktor Martin Vogel sein Amt im Jahr 2009 antrat, war alles noch da.

«Bei uns wurde nichts weggeworfen», sagt Vogels Vorgänger Kaspar Ottiger, der die Bank von 1998 bis Ende 2008 leitete. «Meine Sekretärin hat das Archiv im Keller des Hauptsitzes betreut.» Unter den aufbewahrten Dokumenten hätten sich, neben allen Geschäftsberichten und zahlreichen Kundendossiers, auch sämtliche Protokolle der Direktionssitzungen sowie des Bankrats befunden.

Wichtige Fragen bleiben offen
Der Bankrat ist das oberste Aufsichtsorgan der Kantonalbank, ausserdem bestimmt er den Bankdirektor. Acht seiner neun Mitglieder werden durch den Schaffhauser Kantonsrat gewählt, ein weiteres durch den Regierungsrat. Das Präsidium des Bankrats liegt traditionell in den Händen der FDP; bis 2017 war Rinaldo Riguzzi Präsident, sein Nachfolger ist Florian Hotz.

Wussten die beiden von der Vernichtung des Archivs? Weder Riguzzi noch Hotz waren für die «az» erreichbar.

Gerade den Sitzungsprotokollen des Bankrats als politisch gewählten Gremiums, aber auch den Dokumenten der Direktion kommt eine besondere Bedeutung zu. Zumal sich die Bank als öffentlich-rechtliche Anstalt zu hundert Prozent im Besitz des Kantons befindet. Was bedeutet: Im Extremfall haftet die Öffentlichkeit für die Schulden der Bank.

Die KB hätte die Dokumente dem Staatsarchiv übergeben können, gratis, ohne grossen Aufwand. Man entschied sich jedoch für die Vernichtung der Akten.

Dies verunmöglicht es, die Geschäfts­politik der Bank historisch nachzuvollziehen. Viele wichtige Fragen bleiben offen.

Zum Beispiel: Wie entschieden Bankrat und Direktion über das Geld, das jüdische Holocaust-Opfer während des Zweiten Weltkriegs bei der Kantonalbank deponierten? Oder: Förderte die Bank die Steuerhinterziehung ausländischer Kunden, und wie liefen die Verhandlungen mit den Steuerbehörden der USA ab, welche die KB deswegen zu einer Busse verdonnerte?

Kein politischer Widerstand
Unter Bankdirektor Martin Vogel wurde also das Archiv im Keller geleert. Die jetzige Praxis funktioniert laut Bank folgendermassen: Kundendossiers oder Daten von Angestellten werden grundsätzlich nach zehn Jahren vernichtet; Protokolle von Bankrats- und Direktionssitzungen nach fünfzehn Jahren.

Das heisst: Vor dem Jahr 2003 regiert die grosse Dunkelheit.

Die Kantonalbank begründet dies mit dem Datenschutz. «Es besteht das ‹Recht auf Vergessen›», sagt Marcel Brogle von der Kommunikationsabteilung. «Das ist wie beim Autofahren: Wenn man einmal zu schnell fährt und gebüsst wird, hat man das Recht, dass der Strafeintrag nach einer bestimmten Zeit wieder gelöscht wird.» Allerdings halte man die gesetz­liche Aufbewahrungspflicht von zehn Jahren ein. Und die Geschäfts­berichte zum Beispiel habe man seit Gründung der Bank behalten.

Ein Umfrage der «az» bei einigen anderen Kantonalbanken zeigt: Mit dieser Praxis steht die Schaffhauser Staatsbank allein da. Bei der Schwyzer KB zum Beispiel sind die wichtigsten Dokumente seit 1982 vollständig vorhanden, vorher zumindest zu grossen Teilen. Bei der Zürcher Kantonalbank werden sämtliche Bankrats- und Direktionsdokumente seit der Gründung im Jahr 1870 im eigenen Archiv aufbewahrt. Dasselbe bei der Thurgauer KB, die 1871 entstanden ist. Dies bestätigt der dortige Staatsarchivar André Salathé. Er ist zurzeit in Verhandlungen mit der Bank, um die Bestände ins Staatsarchiv zu überführen.

«Ich sehe keinen Grund, das Archiv zu schreddern», sagt Salathé. «Schon gar nicht bei den Hauptreihen mit den Bankratsdokumenten. Selbst für Kundendossiers ist die Archivierung problemlos, wenn man gute Schutzfristen einrichtet.» Im Normalfall lägen diese bei 100 Jahren.

Das Schreddern des Kantonalbank-­Archivs ist nicht illegal. Nach Ablauf einer zehnjährigen Frist darf die Bank, rechtlich gesehen, vernichten, was sie will. Wie ihre Pendants in den Kantonen Schwyz, Zürich und Thurgau ist auch die Schaffhauser Kantonalbank von der kantonalen Archivverordnung ausgenommen – dies besagt §1, Ziffer 3 ausdrücklich. Die Verordnung trat 1994 in Kraft; erlassen hat sie der Regierungsrat.

Offenbar regte sich damals nirgends politischer Widerstand gegen den Freipass für die KB. Und so rutschte die Sonderklausel in den riesigen Gesetzesapparat des Kantons. Gerade der Kantonsrat hat es verpasst, die Verordnung der Regierung zu korrigieren und auch die Kantonalbank als öffentliche Anstalt in die Archivpflicht zu nehmen.

«Das ergibt überhaupt keinen Sinn!»
Historiker Matthieu Leimgruber

Jedenfalls: Der Schaden ist nun angerichtet. Die Entsorgungsfachleute haben sich neben dem Hexenschuss wohl auch noch eine Staublunge geholt, als sie den Berg aus 130 Jahren Bankakten durch den Schredder jagten.

Für den Wirtschaftshistoriker Matthieu Leimgruber, der als ausserordentlicher Professor an der Universität Zürich lehrt, ist die Zerstörung des Archivs eine Tragödie. «Die Kantonalbanken waren im 20. Jahrhundert lange, mindestens bis 1945, viel wichtiger als die sogenannten Grossbanken, insbesondere für die regionale Entwicklung und Kreditpolitik.»

Auch die Begründung der Verantwortlichen überzeugt Leimgruber nicht: «Persönlichkeitsschutz ist wichtig für Anstaltsinsassen. Aber warum sollten wir wichtige politisch-wirtschaftliche Fragen wie die Vergabe von Darlehen an regionale Firmen, Kreditentscheidungen und so weiter vergessen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn!»