Retter und Forscher

9. August 2018, Marlon Rusch
Samuel Gründler bei einem der kalten Zuflüsse. Foto: Peter Pfister
Samuel Gründler bei einem der kalten Zuflüsse. Foto: Peter Pfister

Der Präsident des Fischereiverbands, Samuel Gründler, kämpft wie ein Löwe für die Äschen. Doch neben der Evakuierung betreibt er auch Grundlagenforschung. Er weiss, was die Äsche erst so zäh gemacht hat.

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Samuel Gründler, Sie leiten ein Ingenieurbüro. Doch jetzt sitzen Sie am Dienstagnachmittag mit mir hier am Rhein, anschliessend kommen Journalisten des ZDF, in der Nacht werden Sie mit dem Boot rausfahren und Fische evakuieren. Schlafen Sie auch mal?
Schlaf ist im Moment tatsächlich Mangelware – wie bei den meisten Fischern. Ich esse auch praktisch nichts, muss mich einmal pro Tag zwingen, rasch ein Sandwich runterzudrücken.

Nicht nur bei den Fischen herrscht Notstand. Wurden Sie überrumpelt?

Das Notfallkonzept, das wir nach dem Hitzesommer 2003 erarbeitet haben, wurde in den Vorjahren ein paarmal ausgelöst. Glücklicherweise kam es aber nie zu einem Fischsterben, da die Wassertemperatur jeweils früh genug wieder sank. Wir haben uns auf die grossen, wichtigen Bäche fokussiert und stellen nun fest, dass die Situation so prekär ist, dass selbst die kleinsten Bächlein zu Zufluchtsorten für ein paar hundert Fische werden, die man retten kann, wenn man weiss, wo sie sind. Und wenn man es dann auch tut.


Eine Sisyphusarbeit. Neben dem Evakuieren verbrachten Sie und die Fischer Tage auf dem Boot und fischten mit dem Netz tonnenweise Kadaver aus dem Rhein.

Ja. Die Fische, die jetzt noch leben, finden sich an den wenigen kühlen Stellen am Ufer. Wir wollen die Situation diesmal auch umfassend dokumentieren. Wassertemperaturen, Sauerstoffgehalt und weitere Beobachtungen. Vom Fischsterben 2003 haben wir fast keine Daten.

Was macht den Fischen genau zu schaffen? Warmes Wasser = wenig Sauerstoff – ist die Gleichung so simpel?
Grundsätzlich ist das richtig. Aber auch der Stoffwechsel der Fische ist bei hohen Wassertemperaturen stark erhöht. Und die Sauerstoffthematik kennt noch andere Faktoren. Die Wasserpflanzen machen am Tag Photosynthese und produzieren Sauerstoff. Die Sättigung ist dann sehr hoch. Das Problem ist die Nacht. Wenn es dunkel wird, veratmen die Pflanzen den Sauerstoff wieder. Das Fischsterben geschieht meist nachts.

Das Seegras ist mitschuldig?
Jein. Es gab Vorstösse, die Krautteppiche im Rhein zu schneiden. Doch dann haben wir herausgefunden, dass für den Sauerstoffgehalt viel dominierender ist, was aus dem Untersee kommt. Das Fischsterben beginnt weiter flussaufwärts. Die Höchstwassertemperatur misst man immer in Stein am Rhein.

Das Problem ist also der Untersee?
Der Untersee ist für die Äschen Fluch und Segen. Er ist wie ein flacher Teller, durchschnittlich 20, 30 Meter tief. Und er wirkt wie ein Puffer. Im Winter ist er nicht zu kalt, im Sommer – meist – nicht zu warm. Und er liefert eine Menge Futter in Form von Plankton, der für die Jungfische wichtig ist. Aber wenn es so heiss ist wie jetzt, wird der Untersee zum Fluch. Verschärft dazu kommt der Ostwind, der das warme Oberflächenwasser in den Rhein drückt. Der See selbst wäre eigentlich ein guter Ort für die Fische. Ich gehe davon aus, dass die Bedingungen für die Äschen, die es bis zum Untersee geschafft haben, zum Überleben ausreichen.

Merken die Fische denn, dass sie in den See schwimmen müssen?
Die Fische sind relativ sensibel. Wenn es heikel wird, wählen sie verschiedene Strategien. Die einen schwimmen flussaufwärts, andere suchen ihr Glück bei den kalten Zuflüssen. Wieder andere denken vielleicht, sie sitzen die Misere aus. Das ist wie bei den Menschen. Meist ist eine Strategie darunter, die funktioniert. Darauf hoffen wir.

Sie machen jetzt Messungen, optimieren laufend ihre Rettungsstrategien, sind pausenlos im Einsatz. Ist mit solchen Massnahmen gesichert, dass der Bestand solche Hitzesommer wie 2003 oder 2018 überleben wird?
Nein, eine Garantie gibt es nie. Das weiss jeder Fischer. Es braucht aber immer eine Verknüpfung unglücklicher Umstände, damit es zu einem grossen Massensterben kommt.

Und vorher kann man noch ein paar hundert Fische evakuieren.
Unter Umständen. Man kann Risikomanagement betreiben, Kaltwasserzonen schaffen. So eine Aktion wie die gross angelegte Evakuierung von Fischen in einem Fluss von der Grösse des Rheins, wie wir sie jetzt durchführen, gab es bislang wahrscheinlich noch nirgends.

Das wurde 2003 nicht gemacht?
2003 hat man ein paar Fische gerettet und sie in den Untersee transportiert. Man war sich aber nicht bewusst, dass sie dort keine Überlebenschance haben.

Reichen denn ein paar hundert oder tausend Fische, die man evakuiert und später wieder aussetzt, dass sich ein Bestand vollständig erholen kann?
Das ist alles andere als optimal. Ein Bestand wächst exponentiell. Wenn die ersten Jahre schlecht sind, verzögert sich alles. Und je kleiner der Bestand, desto anfälliger ist er. Etwa, dass sich ein genetischer Fehler einschleicht. Wir versuchen, das Fundament des Bestandesaufbaus der nächsten Jahre möglichst gross zu halten.

Sie sind derzeit eine Mischung aus Forschungsstelle und Zivilschutz.
Im Moment machen wir quasi Grundlagenforschung. Die Werte, die wir messen, die Todesgrenze der Äsche, hat man so noch nie dokumentiert. Alle Literatur, die ich kenne, besagt, dass die Fische längst tot sein müssten. Wir hatten 28 Grad Wassertemperatur. Und doch überleben Fische in dieser warmen Suppe. Es ist fast ein Wunder.

Sie selbst sind auch Fischbiologe und schreiben in einer Medienmitteilung, die Fische hätten sich seit 2003 angepasst. Kann das so schnell vonstatten gehen?
Guten Laich produzieren Äschen ab ihrem dritten Lebensjahr. Vereinfacht gesagt, gab es so seit 2003 fünf Generationen. Die Evolution kann relativ schnell gehen. Die Selektion war 2003 ja auch sehr hart, nur drei Prozent haben überlebt – nur die allerallerbesten. Mich überrascht es nicht, dass die Äschen zäher werden. Mich überrascht, dass sie so viel zäher geworden sind. Es gibt ja auch physiologische Grenzen. Aber offensichtlich schaffen sie es derzeit knapp, genug Sauerstoff zu bekommen – oder es gibt einen anderen Faktor, den wir nicht kennen. Wir haben, wie gesagt, aus der Vergangenheit kaum Datenreihen.

Es gibt die Anpassungsfähigkeit des Fisches und es gibt die Klimaerwärmung. Der Fisch muss schneller sein, um zu überleben.
Oder zumindest gleich schnell.

Ist das möglich auf die Dauer?
Wir können nicht sagen, wie gross der Bestand in 50 Jahren sein wird. Ich bin aber felsenfest überzeugt, dass wir die Äsche als Art erhalten können. Auch in naher Zukunft werden solche extremen Hitzesommer Ausnahmen sein. Vielleicht kommen sie nicht alle fünfzehn, sondern alle fünf Jahre. Aber wir haben die kalten Zonen. Umso wichtiger ist es, nun rasch die Seitengewässer ökologisch aufzuwerten und dort eine optimale Wasserqualität zu erzielen. Heute ist das leider nicht immer der Fall, was die Überlebenschance auf Dauer stark mindert. Ein Teil wird überleben, solange die Fischer ihnen helfen.

Warum braucht es den Bestand überhaupt?
Grundsätzlich hat sich in der Schweiz die Meinung durchgesetzt, dass die Biodiversität etwas Wertvolles ist. Und dazu gehört die Äsche. Wir haben eine Verantwortung, unseren Nachkommen keine verbrannte Erde zu hinterlassen. In Schaffhausen hat die Äsche als Spezialität eine lange Tradition. Sie war bis vor kurzem sehr eng mit der Gastronomie verwoben. Viele Feinschmecker sind von weither angereist, weil man hier noch eine Äsche essen konnte. In unserem Rheinabschnitt hat man jedes Jahr zehntausende Äschen gefangen und gegessen, ohne dass dies den Bestand beeinflusst hätte. Sie sind ein nachhaltiges Lebensmittel, 1000-mal besser als ein Pangasius aus Vietnam, der in einer Kloake lebt, irgendwelchen Güsel frisst und mit Medikamenten vollgepumpt ist. Und die Äsche wächst vor unserer Haustür.

Hat die Äsche einen Einfluss auf das Ökosystem? Was würde mit dem Rhein geschehen, wenn sie weg wäre?
Die Natur findet immer eine Lösung. Es würden einfach andere Fischarten kommen. Wenn es wärmer wird, gibt es mehr Karpfenarten.

Kürzlich haben Schaffhauser Fischer vermehrt Welse aus dem Rhein gezogen.
Genau. Das ist eine Entwicklung, die in den letzten Jahren bereits eingesetzt hat.

Sie sagen, in 50 Jahren wird es den Bestand noch geben. Aber was ist in 100 Jahren, in 200 Jahren? Langfristig wird der Klimawandel unaufhaltsam sein. Der Wels ist wohl nur ein Vorbote. Insofern betreiben Sie mit Ihren Rettungsversuchen vielleicht doch Pflästerlipolitik.
Aufgeben liegt nicht in der Natur der Fischer (lacht). Solange wir eine Chance sehen, kämpfen wir weiter. 50 Jahre sind ein langer Zeithorizont. Es kann trotz allem sein, dass es plötzlich andere Auswirkungen auf das Klima gibt, als unsere heutigen Modelle voraussagen. In den letzten 20 Jahren musste man vieles revidieren. Wenn wir jetzt also aufgeben und die Äschen aufs Spiel setzen würden, könnten wir das in 50 Jahren bitter bereuen.

Wie erklären Sie sich das grosse mediale Interesse am Schaffhauser Äschensterben?
Vielleicht ist es das Sommerloch (lacht). Die Äsche ist bei den Schaffhausern schon sehr stark im Gedächtnis verankert. Aber jetzt nimmt das doch auch eine Dynamik an, die einem etwas unheimlich wird. Wenn das SRF, eine deutsche Presseagentur, das ZDF, SWR und CNN und BBC plötzlich auf diesen Zug aufspringen und über unsere Äschen berichten, zeigt das: das hat schon Tragweite.

Was geschieht, wenn es auch in den kommenden Wochen nicht kühler wird?
Die Fische, die jetzt in den «sicheren Zonen» sind, leiden. Irgendwann geht das Sterben dort weiter. Dazu kommt, dass die Überlebenden vielleicht Folgeschäden davontragen werden. Ich erwarte, dass die Qualität der Naturverlaichung im nächsten Jahr nicht gut sein wird, weil die Fische zwei Monate ums Überleben gekämpft haben zu einer Zeit, in der sie eigentlich Energie für die Fortpflanzung hätten bunkern sollen. So ein Kampf kann an ihnen nicht spurlos vorbeigehen.

Was passiert, wenn 2019 wieder dasselbe passiert und der Rhein erneut 28 Grad warm wird?
Ich werde wieder dasselbe tun.

Gibt es dann überhaupt noch etwas zu retten? Vermutlich werden die wenigsten Fische diesen Sommer überleben.
Ich glaube nach wie vor, dass wir einen guten Teil über diesen Sommer retten können. 2003 hat man gar nichts getan und hat trotzdem wieder einen Bestand hinbekommen. Ausserdem: Wenn es weniger Fische im Rhein gibt nach dem Jahr 2018, hat es nächstes Jahr mehr Platz in den Kaltwasserzonen. Und wir werden schlauer sein, bessere Kaltwasserzonen zur Verfügung stellen, die Seitengewässer aufwerten. Die Kapazität der sicheren Häfen werden wir jedes Jahr verbessern. Derzeit kommen Anfragen aus der breiten Bevölkerung von Leuten, die helfen möchten. Die Solidarität ist hervorragend. Das ist das einzig Positive. Alle halten zusammen.