Die ehemalige Schalterhalle erfüllt keinen Zweck mehr. Warum hält man sich hier auf?
Es ist kurz nach neun Uhr morgens, als ich zum ersten Mal gegen die Bahnhofsordnung verstosse.
Folgende Nutzungen sind auf dem Bahnareal nicht gestattet:
Sitzen und Liegen auf Boden und Treppen.
Eine Gruppe Männer sitzt vor dem Eingang zur ehemaligen Schalterhalle auf einer Steinbank und verbotenerweise auf der Treppe. Manche sind fast jeden Tag hier. Ich setze mich dazu, will herausfinden, warum man sich hier aufhält, am Bahnhof, wo man eigentlich nur hingeht, um wieder weggehen zu können.
Die Menschen, die sich hier länger aufhalten, sind Unliebsame. Passantinnen blicken mit Verachtung auf sie hinab, die Polizei kontrolliert sie häufiger als andere, ehrliche Bürger nennen sie «Randständige». Wir wollen sie anders bezeichnen: Die Nichtwartenden. Hier, wo andere Leute auf einen Bus, einen Zug oder auf ankommende Bekannte warten, sind sie die Einzigen, die nicht warten. Auf nichts.
«Die meisten, die hier am Bahnhof hocken, sind anständig», holt Dave* aus, «es gibt zwar schon auch Arschlöcher, wie überall, aber die erkennt man.» Er trinkt Sommersby mit Rhabarbergeschmack aus der Dose und trägt die deutlichen Zeichen eines unsteten Lebenswandels mit diversen toxikologischen Exkursen auf der Haut. 180 Franken habe er pro Monat zum Leben, wenn die Rechnungen bezahlt seien, rechnet er vor. Als ich ihm eine Zigarette anbiete, besteht er darauf, dafür zu bezahlen, «wenigstens zehn Rappen».
Ein fröhlicher junger Mann kommt dazu, er sieht überhaupt nicht aus, als würde er dazugehören. Er arbeitet als Informatiker und hat gerade seine Bachelor-Thesis eingereicht. Lukas, freut mich. Er stellt vier kühle Bierdosen auf die Treppe und bietet sie strahlend der Runde an. Es ist zehn Uhr, prost, danke.
Nicht gestattet sind ausgiebiger Alkoholkonsum, insbesondere in Gruppen von zwei oder mehreren Personen, und Schlafen.
Die moderne Schweiz wird gerade 170 Jahre alt, der Schaffhauser Bahnhof ist ein Jahr älter. Trotz bescheidener Grösse erinnert er an die besten Zeiten der Eisenbahn. Doch in der ehemaligen Schalterhalle ist von dieser Grandezza nichts zu spüren. Schalter gibt es hier schon lange nicht mehr, und auch keinen Automaten. Bei näherer Betrachtung gibt es hier: nichts.
Zur Nutzung des Warteraums berechtigt sind Reisende mit gültigem Fahrausweis sowie Personen, welche Reisende abholen oder mit Reisenden auf die Anschlussverbindung warten.
Eine grosse Leere füllt den hohen Raum, man müsste vielleicht sagen: Sie leert ihn. Ein hässlich-schlichter ovaler Leuchter dient vor allem dazu, deutlich aufzuzeigen, dass unter ihm nichts ist. Hier gab es mal einen Imbiss, dann für kurze Zeit ein Klavier. Die SBB Immobilien AG schreibt, sie habe zwar Pläne für den Raum, aber keinen Zeitplan dafür. Für einen Warteraum ist das immerhin konsequent.
Trotzdem: Die Nichtwartenden dürften eigentlich nicht hier sein. Die Bänke sind bewusst unbequem gestaltet, dafür gibt es USB-Anschlüsse zum Aufladen von Handy-Akkus. Als ich mir am Kiosk ein Bier hole, fragt mich die Kassenfrau nach meinem Jahrgang, was mir schon lange nicht mehr passiert ist.
Das graue Unterhemd von Michi ist alt und etwas aus der Form geraten, seine Tatoos auch. Gerade verabschiedet er sich von einem anderen Nichtwartenden: «Tschau, gell. Wa holsch? En Schneeball?» Die Hitze wird schlimmer. Ein dicker Glatzkopf mit Bierdose und einem noch dickeren Hund erklärt einer älteren Dame sehr höflich, wo ihr Zug fährt.
Der Aufenthalt im Warteraum ist beschränkt bis zur Abfahrt der nächsten Anschlussverbindung.
Helmut und Dino haben keine Anschlussverbindung. Helmut trägt ein oranges T-Shirt und einen orangen Hut, beides Werbegeschenke. Er hält sich an einer Bierflasche fest. Als sie leer ist, steht Dino für ihn auf, schlurft unendlich langsam zu den neuen Recycling-Kübeln und wirft säuberlich Krondeckel und Flasche in die richtigen Behälter. Dann schlurft er zurück und schläft ein, ein Verstoss gegen Artikel 8 der Bahnhofsordnung.
Als ich schon wieder am Kiosk stehe, wird mein Alter nicht mehr erfragt, dafür ernte ich einen sorgenvollen Blick. Ich offeriere Helmut und Dino ein Bier, Dino bedankt sind insgesamt viermal, seine müden Augen leuchten. Die Augen von Helmut sind milchig, aber wenn er etwas erzählt, das er lustig findet, blitzen Humor und Schalk auf. Maurer sei er gewesen, und Monteur. Das Bier zahle er mir zurück, wenn er am Siebten die AHV bekomme.
Dino murmelt manchmal ohne erkennbaren Zusammenhang einen Satz wie «Jo, da isch eso. Chame nüt mache». Dann schlurft er unvermittelt davon, Helmut sagt: «Er ische ebe en Drögeler», sei aber einmal ein Spitzenkoch gewesen und irgendwann abgestützt. «Ich bringe ihm jeden Morgen zwei Dosen Bier, Gralsburg, 50 Rappen im Denner.»
Draussen auf der Treppe sagt Lukas, der Informatiker, gerade: «Jeder hier hat seine Geschichte.» Dave verkauft einem anderen Nichtwartenden zwei verschiedene, bunte Tabletten und achtet darauf, dass die Übergabe nicht im Sichtbereich der Videokameras stattfindet.
Dann gibt er die Antwort auf die Frage, warum er und die anderen Nichtwartenden an diesem ungemütlichen Ort sind. «Das Pärkli gegenüber vom Altersheim haben sie zugesperrt, beim BBZ sind wir vertrieben worden. Wo sollen wir denn hin?»
*Alle Namen geändert.