Welche Werte feiern die Schweizerinnen und Schweizer am 1. August? Und warum? Eine Reise per Anhalter quer durch den Kanton Schaffhausen bringt uns auf das fragwürdige Ideal der Büsinger-These.
Auf dem Hallauer Berg kommt die Erkenntnis zum 1. August: Der Irrtum ist ja, dass es beim Nationalfeiertag gar nicht so sehr um die Schweiz als Land geht. Sondern darum, sich selbst – das Ego der Schweizerin, des Schweizers – zu zelebrieren. Und dadurch zu stärken.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Also von vorne.
1. August, morgens. Ich packe ein paar Kartonschilder und eine Regenjacke in meinen Rucksack und ziehe los. Per Anhalter durch den Kanton Schaffhausen, von West nach Ost. Dem Volk aufs Maul schauen, wie es Jeremias Gotthelf zu tun pflegte. Antworten suchen. Alle Leute, denen ich heute begegne, sollen dieselbe Frage beantworten: Was muss man tun, damit man ein guter Schweizer, eine gute Schweizerin ist?
Die Tour beginnt um 10 Uhr in Beggingen, dem entlegensten Dorf des Kantons. Fragen Sie nicht, warum. Zwecklos – die Naturgesetze sind nichts dagegen.
Die Fakten zuerst: Die «Sonne» ist heute geschlossen, die Bewirtung wird bei der Turnhalle vorgenommen. Als ich dort vorbeischaue, laden die Männer gerade Festbänke von einem rostigen Traktoranhänger; die Frauen sind in der Halle, Kartoffelschälen. Zwei Jungs hängen das Dorfwappen, zwei silberne Pflugscharen auf grünem Grund, und eine Schweizer Fahne über die Fassade des Schulhauses. Und irgendwo verliert eine Hüpfburg mit dem Aufdruck einer Versicherungsgesellschaft gerade die Luft. Röcheln.
Wer hier der 1.-August-Redner sei, erkundige ich mich. Ein Unternehmer, meint eine ältere Frau, Josef irgendwas, Herrgott nochmal, es sei ihr grad entfallen.
«18 Uhr: Festwirtschaft, organisiert vom Singkreis Randental und vom Männerchor Schleitheim-Beggingen», heisst es im Programm. «Hüpfburg und Othmars Dampflokomotive. 20 Uhr: Rede von Josef Eugster, SVP-Parteipräsident Stadt Schaffhausen. 22 Uhr: Höhenfeuer, Umzug und Tanzmusik mit Gudli.»
Antwort einer älteren Frau mit eleganter Föhnfrisur und schicken Fingernägeln: «Was man tun muss, um ein guter Schweizer zu sein? Stolz auf unsere Haamet sein. Und das sollte man auch feiern.» Denn der Stolz gehe zunehmend verloren.
1. Beggingen–Schleitheim: «Weltoffen»
Der 1. August als Festung gegen den Zerfall? Ein Kartonschild mit der Aufschrift «Hallau» unter dem Arm, trotte ich zum Dorfausgang. Fünf Autos passieren mich, skeptische Blicke aus dem Innern. 15 Minuten sind erst vergangen, als mich das sechste mitnimmt. Bis nach Schleitheim könne sie mich fahren, sagt eine Frau um die 50, dort müsse sie ihre Rösser füttern, sie komme gerade vom Posten im Deutschen. Ihre blauen Augen strahlen Herzlichkeit aus. Ich steige ein. Ohne Umschweife geht es zur Sache.
Ihre Antwort, während sie gemächlich fährt: «Eine gute Schweizerin ist tolerant und weltoffen, schätzt aber auch, woher sie kommt.» Das Gegenteil davon sei, wenn jemand nur bis zur Dorfgrenze blicke und nicht darüber hinaus.
2. Schleitheim–Hallau: «Wie in Amerika»
In Schleitheim angekommen, verabschiede ich mich von den herzlichen Augen. Der 1. August als Symbol der Toleranz? Ich laufe durchs Dorf und werde weiter überrascht: Ein 18-jähriger Student soll hier die Festrede halten. «Weiss denn der überhaupt was zu erzählen?», fragt eine alte Dame. Die Frage ist natürlich rein rhetorischer Natur; was will uns dieser Grünschnabel gross erklären.
Nachdem drei Autos und zwei gewaltige Traktoren vorbeigefahren sind, hält ein unsportlicher Mann mit Sportler-Sonnenbrille, Cap und Bart an. Ernst, aber nicht unfreundlich deutet der Mitdreissiger wortlos auf den Beifahrersitz. Im Wagen riecht es nach einer Mischung aus Gülle und Heu, auf dem Armaturenbrett liegen zwei rosa Schnuller, die im Takt der Gangschaltung ruckeln.
Seine Antwort, während er über den Hallauer Berg rast: «Man sollte stolz sein auf unser Land – wie in Amerika. Das hat nichts mit Rechtsradikalen zu tun. Aber uns geht es einfach zu gut, darum sind wir nicht mehr stolz. Viele Gemeinden streichen ihre 1.-August-Feier. Das ist traurig.» Und dann erklärt er in einem fliessenden Übergang, geübt durch harte Lehrjahre am Stammtisch, welche Leute er nicht mag: «Solche, die nicht arbeiten wollen und dann dem Staat auf die Pelle rücken.»
Als mich der Mann in Hallau absetzt, wünscht er mir mit Nachdruck einen schönen 1. August. Man erkennt: Der Mann feiert heute weniger das Land als sich selbst, den Schweizer Bürger.
3. Hallau–Neunkirch: «Nicht für was Besseres halten»
Hallau ist ein merkwürdiges Pflaster. Vielleicht liegt es aber auch an mir, dass ich nun seit einer halben Stunde in der brennenden Mittagssonne vor mich hin schwitze. Auto um Auto zieht vorbei. Ich stelle einen Tagesrekord auf: Ohne mich zu bewegen, zähle ich 37 Schweizer Flaggen. Nach gut 35 Minuten hat ein junger Lenker Erbarmen. Er müsse zwar nicht nach Neunkirch, fahre aber gerne einen Umweg. Nachdem er den beeindruckenden Gerümpelhaufen ziemlich stilvoll vom Beifahrersitz auf die Rückbank verlagert hat, steige ich ein.
Seine Antwort, während er sich eine Zigarette anzündet: «Ein guter Schweizer? Jemand, der sich nicht für etwas Besseres hält, nur weil er Schweizer ist. Vielleicht.»
4. Neunkirch–Schaffhausen: Keine schlechten Nationen
Der Deutsche! Irgendwann musste er ja kommen. Schon nach gut fünf Minuten Wartezeit gabelt mich ein 45-Jähriger aus Jestetten auf, weisses Poloshirt, beige Stoffhosen. Wobei: Er sei ja schon lange eingebürgert, auch wenn man ihm den Deutschen noch an der Aussprache anhöre.
Seine Antwort, hier die Kurzform des 15-minütigen Monologs: Es gibt keine schlechten Nationen, nur schlechte Menschen.
5. Schaffhausen–Büsingen: «Wehren»
Auf der Höhe der Rhybadi springe ich in Schaffhausen aus dem Auto. Der redselige Deutsche hat mich auf eine Idee gebracht: Warum nicht auch im Ausland nach Antworten suchen? Also auf zur Mutter aller Schweizer Ausland-Invasionen, auf zur deutschen Exklave Büsingen.
Doch der Weg dauert. Erst das 40. Auto hält an, ein schwarzer Kleinwagen mit funkelnden Felgen und getönten Fensterscheiben. Eine davon surrt nach unten. Ein sehr beleibter Mann um die 30 guckt mich ziemlich angepisst an, bläst eine Dunstwolke aus (E-Zigarette) und öffnet wider Erwarten die Tür. Ich quetsche mich hinein; es riecht nach Parfüm. Auf dem Armaturenbrett steht eine vergoldete Figur der Heiligen Maria, und am Rückspiegel glänzt ein Kreuz.
Seine Antwort, während sein linker Arm aus dem Fenster baumelt: «Ein guter Schweizer wehrt sich für seine Freiheit.» Er lanciert einen Exkurs, der beim Streit um einen Privatparkplatz beginnt und beim Kettensägen-Angriff in Schaffhausen endet. Trotz grossem Bemühen kann ich ihm leider nicht ganz folgen; ich nicke aber zwischendurch. Das kommt wohl an: Der Mann schaut zwar noch immer angepisst, lädt mich aber zum Essen mit seiner Familie ein, er fahre erst zum Einkaufen nach Gailingen, aber dann gehe es gleich los. Ich müsse noch weiter, erwidere ich und lehne dankend ab.
Gleichwohl habe ich Hunger, also setzt mich der Typ – seine ausdrückliche Empfehlung – vor einem China-Restaurant in Büsingen ab. «Mach’s gut, Bruder», sagt er zum Abschied.
Es gibt «Thai-Alles-Gute» für 12.50 Franken – Fisch, Rind, Poulet, Gemüse, Reis. Sehr lecker, liegt aber schwer im Magen. Dazu Falkenbier, der Halbliter für 3.20 Franken.
Neben mir bestellt ein Rentner dasselbe. Wir sind die einzigen Gäste.
Vielleicht sind das die Werte, die man am 1. August feiert; oder sagen wir: das ist der Wunschtraum, das Ideal: China-Food essen und Schweizer Bier trinken zu deutschen Preisen – und in Franken bezahlen. Der Gedanke hält sich hartnäckig; er wird sich mir als Büsinger-These einprägen. Sie klingt plausibler, je länger man darüber nachdenkt.
6. Büsingen–Gailingen: Persönlich beleidigt
«Heute sind wir halt schlechte Schweizerinnen», lacht die knapp 50-jährige Frau hinter dem Lenkrad – halb nervös, halb belustigt. Es geht zum Grosseinkauf nach Gailingen.
Ihre Antwort: «Ein guter Schweizer? Ist neutral und doch weltoffen. Jemand, der schätzt, was er an der Schweiz hat.» Sie könne es nicht haben, wenn jemand über ihr Land herziehe, da fühle sie sich angegriffen, als ob man sie persönlich beleidigt habe.
Sie lenkt ihren riesigen Wagen nach rechts zum Aldi-Parkplatz. Doch einen freien Platz zu finden, ist unmöglich. Schaffhauser und Thurgauer Kennzeichen, so weit das Auge reicht. Eine Variation der Büsinger-These?
7. Gailingen–Diessenhofen: «Nicht schweizerisch tun»
Ich verlasse den Parkplatzrummel und laufe durch Gailingen. Statt einer Schweizer Fahne hängt hier die Flagge der EU. Und im Restaurant wird mit Euro bezahlt. Schon das zweite Auto – hinter dem Steuer eine junge Deutsche, auf dem Rücksitz ihr kleiner Sohn – nimmt mich mit über die Grenze nach Diessenhofen. Ein Tennisschläger drückt in meine Kniescheibe. Die aufmerksame Frau räumt das Gerät nach hinten.
Ihre Antwort, nachdem sie lange überlegt hat: «Von den Schweizern bin ich nicht ganz so überzeugt. Gute Schweizer sind wahrscheinlich diejenigen, die nicht allzu schweizerisch tun.»
8. Diessenhofen–Stein am Rhein: Furchtbare Deutsche
Diessenhofens Altstadt ist in Rot und Weiss gehüllt. Jemand hat jedoch eine Peace-Fahne aus dem Fenster gehängt. Ziviler Ungehorsam? Item. An einer Tankstelle warte ich auf eine Mitfahrgelegenheit für die letzte Etappe. In Stein am Rhein, ganz im Osten des Kantons, soll die Tour enden.
Nach zwanzig Minuten hält ein Auto; darin sitzt eine toughe Blondine um die 40. Pöstlerin sei sie, auf dem Weg ins Strandbad nach Stein, ich könne gerne mitfahren.
Ihre Antwort, nachdem sie vom Autostoppen geschwärmt hat: «Die hohe Qualität der Arbeit zeichnet einen guten Schweizer aus. Das geht leider immer mehr verloren.» Sie erwähnt den Baumarkt Jumbo als Beispiel. Da könne man ihr nicht mal angemessen Auskunft geben.
Die Frau will wissen, was denn die anderen Leute so alles erzählt haben. Als ich ihr von der deutschen Mutter berichte, die von den Schweizern «nicht ganz so überzeugt» sei, regt sie sich fürchterlich auf. Das sei halt eine Deutsche, meint die Frau, eine richtige Deutsche.
Vielleicht ist das der Sinn des 1. Augusts: Das Ego stärken, um sich gegen Kritik von aussen abzuhärten. Doch warum reagieren die Leute trotzdem so dünnhäutig darauf? Wahrscheinlich ist es genau umgekehrt: Die Überhöhung des Egos lässt eine kritische Beurteilung nicht mehr zu.
Wie dem auch sei: Kurz vor vier Uhr erreichen wir Stein am Rhein. Als ich aussteige und mich von der netten Fahrerin verabschiede, fühle ich mich ausgelaugt. Zu viel Schweiz macht einen einfach kaputt.