Auf Facebook wirbt ein Flurlinger für ein revolutionäres Geschäftsmodell. Dutzende zeigen Interesse. Unser Redaktor gibt vor, mitmachen zu wollen – und soll bald tausende Franken bezahlen, um ins «big business» einzusteigen. Gerichte sprechen von einem Schneeballsystem».
Markus ist der Kumpeltyp. «Ich schreibe lieber nicht zu viel, sondern rede persönlich mit den Leuten, verstehst du?» Markus duzt ungefragt. So hat man es ihm wohl beigebracht an der Schulung, dort, wo man ihm auch eingetrichtert hat, dass er bald ein reicher Mann sein werde, wenn er nur genug weitere «Premium Marketer» anwerben würde, die bei diesem «visionären Projekt» mitmachen. Einer davon soll ich sein.
Markus wohnt in Flurlingen und heisst in Wirklichkeit anders. Ich wurde über Facebook auf ihn aufmerksam. Ein äusserst attraktives Geschäft offeriert er hier, ein Einkommen ohne Obergrenze. Wer mitmacht, könne arbeiten, wo er wolle, mit wem er wolle, so viel er wolle. Und das Geld sprudle. Ich schreibe Markus eine Nachricht, wie auch zwei Dutzend andere Facebook-User aus der Region.
Er möchte wissen, was ich beruflich mache (Student), und erklärt dann kurz und euphorisch, worum es geht. Ein Auszug: «Wenn es nun die Möglichkeit gäbe, von all diesen Umsätzen [des weltweiten Konsumgeschäfts] zu profitieren und damit Geld zu verdienen am gesamten Einkauf, dann sollte man diese Chance nutzen. Genau das habe ich getan und jetzt zeige ich anderen Menschen diese Möglichkeit und helfe ihnen das umzusetzen.»
8 Millionen Mitglieder
Ich bin interessiert und treffe Markus einige Tage später in der Lobby eines chicen Hotels. Ein begeisterter, dauergrinsender Mann mittleren Alters, der zu glauben scheint, was er mir in den 45 Minuten erzählt.
Das System, das er umreisst, ist schwer durchschaubar. Laut Wikipedia handelt es sich um eine «länder- und branchenübergreifende Einkaufsgemeinschaft». Dahinter steckt die Firma Lyoness mit Sitz in Buchs, St. Gallen. Das operative Geschäft spielt sich in Österreich ab, tätig ist Lyoness in 47 Ländern. Rund 8 Millionen Mitglieder sind über den ganzen Erdball verstreut. Das System ist etabliert. Gegründet wurde es 2003.
Im Kern funktioniert es folgendermassen: Mitglieder erhalten eine personalisierte Karte. Wenn sie damit in einem von zehntausenden Partnershops einkaufen, bekommen sie einen einstelligen Prozentsatz des Kaufpreises rückerstattet. Markus gibt mir eine Karte, die ich noch registrieren muss. Wenn ich nun damit einkaufe, bekomme nicht nur ich selbst Geld rückerstattet, auch Markus bekommt auf meinen Einkauf einen winzigen Prozentsatz gutgeschrieben, da er mich angeworben hat. Er ist «Premium Marketer».
So weit, so gut. Doch das allein sei eigentlich nicht der Rede wert. Es gebe auch die Möglichkeit, «big business» zu machen – als «Premium Marketer».
Was es damit auf sich hat, wird detailliert in einem Film gezeigt, den mir Markus im Anschluss an unser Gespräch zuschickt. Eine halbe Stunde lang erklärt ein adretter, junger Herr, warum Lyoness «Weltgeschichte schreiben» wird. «Premium Marketer» verteilen Karten und bekommen einen winzigen Prozentsatz der getätigten Einkäufe ihres Netzwerks gutgeschrieben. Wenn sie nun aber nicht nur Kunden gewinnen, sondern weitere «Premium Marketer» akquirieren, profitieren sie auch von deren Netzwerk. Irgendwann, so das Versprechen, wird das System zum Selbstläufer. Ohne jegliches Zutun fliesst Geld auf das Konto derer, die ein grosses Netzwerk haben. Eine Grafik (siehe Seite 4) besagt, dass ich damit bis zu 150’000 Euro verdienen kann – monatlich. Quintessenz: «Werde so schnell es geht Premium Marketer!»
Ein Schneeballsystem
Als ich Markus frage, was es ihm nütze, wenn er mich anwerbe, sagt er nach einigem Zögern: «Ich kann ja nicht die ganze Region selbst abgrasen, ich brauche Hilfe.» Ob er an mir verdiene? «Ach, ja, ich glaube ein bisschen, aber keine Ahnung wie viel, vielleicht zweihundert Franken.» Darum gehe es mit Bestimmtheit nicht, und die Vorteile lägen ja sowieso klar auf meiner Seite: «Wenn du von Lyoness weisst und nicht einsteigst, ist es, wie wenn du jeden Tag Geld aus dem Fenster wirfst.»
Doch wie werde ich «Premium Marketer»? Ich kaufe mich ganz einfach ein. Um «big business» zu machen, muss ich 3’600 Franken bezahlen, dann bin ich, wie Markus, mein eigener Chef und bau mein Netzwerk auf. Auf dem Handy zeigt er mir, wie jeweils am Dienstag das Geld reinkommt. SMS bestätigen den Eingang von ein- und zweistelligen Geldbeträgen.
Sucht man im Internet nach Lyoness, stösst man auf weniger Euphorie. Bereits 2013 recherchierte der «Beobachter», dass 99,7 Prozent der ausbezahlten Gelder nicht wie versprochen von den Partnerfirmen stammen, sondern von Einzahlungen von «Premium Marketern». Das System speist sich selbst. Die Neuen bezahlen die Alten. Der «Beobachter» schreibt, dass einige der Leute an der Spitze von Lyoness in der Schweiz einst einen illegalen Schenkkreis betrieben hatten. Die Erfinder hatten abkassiert, irgendwann sei der Kreis kollabiert und die kleinen Leute hätten ihr Geld verloren.
Lyoness selbst wurde von mehreren Dutzend Gerichten in mehreren Ländern rechtskräftig als «unlauteres Schneeballsystem» qualifiziert. In einem wegweisenden Urteil sagte das Obergericht Zug im Februar 2017, ein Schneeballsystem liege vor, sobald in Aussicht gestellt werde, dass die Anwerbung von weiteren Mitgliedern Vorteile bringen könne. Die Verträge, die Lyoness mit ihren Mitgliedern abgeschlossen hätten, so das Gericht, seien nichtig, da sie gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb verstossen würden. Erst vor wenigen Monaten wurde die Geschäftstätigkeit in Norwegen von der staatlichen Lotteriebehörde verboten. In diversen Berichten liest man im Internet von einst glühenden Verfechtern des Systems, die ihnen versprochenen Beträge hätten sie nie auch nur ansatzweise erhalten.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco sagt auf Anfrage der «az» vorsichtig, es rate «auf Grund der Intransparenz des Systems von Lyoness zur Vorsicht».
Kein Geld für ein Mineralwasser
Markus kommt in der Hotellobby von selbst auf das Thema Schneeballsystem zu sprechen: «Weisst du, was ein Schneeballsystem ist?» Und dann: «Wir sind keines.» Er erzählt von einem Strafrechtsprofessor, der das belegt habe. Was er nicht sagt: Besagtes Gutachten vom September 2013 wurde von Lyoness selbst in Auftrag gegeben. Lyoness hat jegliche Vorwürfe stets zurückgewiesen.
Heute heisst Lyoness offiziell anders. Die rechtlichen Probleme hatten eine Reihe von Namensänderungen zur Folge. 2014 wurde aus Lyoness Lyconet. Vor wenigen Wochen wurde auch die Lyoness Group AG aus dem Firmenregister gestrichen. Neu heisst die Firma «mWS myWorld Solutions AG». Das System tritt auch unter dem Namen Cashback auf.
Markus jongliert mit allen vier Namen. Er warnt mich davor, mich selbstständig zu informieren. Das System sei so kompliziert, da sei es einfacher, es werde einem persönlich erklärt. So könne man nachfragen. Der nächste Schritt wäre, dass ich mit ihm zusammen zu einer Präsentation nach Volketswil fahren würde. Die finde zweimal wöchentlich statt und dort treffe ich auch auf weitere Interessierte.
Solche Gespräche, wie er sie gerade mit mir geführt hat, habe er in den vergangenen Monaten mit etwa zehn Menschen aus dem Raum Schaffhausen geführt, sagt Markus. Ich solle mir jetzt Zeit nehmen, aber nicht zu viel, und mich dann wieder bei ihm melden. Nochmals mit Nachdruck: «Das System kann nicht stoppen, es kann nicht verrecken!»
«Leider» hat Markus gerade nur Euro dabei und gibt mir zu verstehen, dass es nach diesem wegweisenden Gespräch angezeigt wäre, dass ich sein Mineralwasser übernehme. Nachdem ich bezahlt habe, fragt er mich unverblümt nach der Rechnung: «Für die Steuern.»
Nach dem Treffen oute ich mich als Journalist und stelle Markus schriftlich einige Fragen. Er antwortet nicht.