Altersheim zur Unruh

2. April 2018, Kevin Brühlmann
Altersheim Thayngen: Aussen wird gebaut, innen brodelt es.

Dem Altersheim Thayngen läuft das Personal davon: 40 von 100 Angestellten haben den Betrieb in den letzten Monaten verlassen. Man spricht von einem «Klima der Angst» und von «Kontrollwahn» der Heimleitung.

Nach 31 Jahren Arbeit im Altersheim Thayngen weigert sich Helga Schudel. Zum ersten Mal. Die 62-Jährige verweigert die Unterschrift für eine Arbeitsbeurteilung, in der sie als «niveaulos» und «nicht akzeptabel» bezeichnet wird.

Es ist der 6. Oktober 2017, und Helga Schudel versteht die Welt nicht mehr.

Während ihren 31 Jahren im Altersheim als Raumpflegerin, Mitarbeiterin der Cafeteria und Service-Angestellte hat sie noch nie eine schlechte Leistungsbeurteilung erhalten.

Helga Schudel fragt sich: Was ist da los?

Heute, Monate später, zeigen Recherchen der «az»: Das Altersheim Thayngen hat ein gröberes Problem. Fast 40 Angestellte haben seit August 2016 gekündigt. Das bestätigen mehrere Quellen, die Einblick in die Personaldossiers haben. Insgesamt arbeiten rund 100 Leute «dort unten», wie man das Altersheim im Dorf nennt.

Die Abgänge lassen auf ein bestimmtes Muster schliessen: Die – meist älteren und langjährigen – Angestellten reiben sich an ihren Vorgesetzten. Erhalten eine schlechte Qualifikation. Und dann kündigen sie. In Scharen.

Die Vorwürfe reichen von «alltäglichem Mobbing» über «Kontrollwahn» bis hin zu «teaminterner Denunziation» und einem «Klima der Angst», das vorherrsche.

Die Kündigungswelle beschäftigt mittlerweile auch die Thaynger Politik. An der letzten Einwohnerratssitzung vom 15. März war das Altersheim Thema Nummer eins. Es gab ein parteiübergreifendes Stirnrunzeln und viele Fragen. Tenor: Man wünscht Klarheit über die «Vorgänge dort unten».

Das wünscht sich auch Helga Schudel: «Ich habe meine Arbeit wahnsinnig gerne gemacht. Aber nun, nach über 30 Jahren im Dienst der Gemeinde, erfahre ich null Wertschätzung.» Nachdem sie sich einen Anwalt zu Hilfe geholt hatte, wurde sie Anfang 2018 frühpensioniert.

Helga Schudels Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die Personalsituation im Altersheim. Insbesondere auf den Umgang mit den Angestellten.

Drohungen des Heimleiters
Im August 2016 kommt ein neuer Heimleiter nach Thayngen: Stefan Dennler. Ein Mann «vom Typ sibirischer Gefängniswärter, der mit eisernem Besen kehrt», wie ihn eine Person beschreibt. Ein Mann, der weiss, wie man anpackt, so eine andere. Klar ist: In eineinhalb Jahren als Heimleiter hat er nicht einen Tag Ferien gemacht.
Unter Dennler wurden grossflächige Reorganisationen eingeleitet. Eine externe Qualitätsanalyse hatte zuvor über 60 zum Teil «gravierende Mängel» im Altersheim ausgemacht.

Kurz vor ihrem 30-Jahre-Jubiläum, im Herbst 2016, bietet man Helga Schudel einen neuen Arbeitsvertrag mit einem 60-Prozent-Pensum an. Bislang hatte sie zwei Kontrakte: einen im Stundenlohn für Raumpflege und Cafeteria, einen mit 50-Prozent-Pensum im Service des Speisesaals. Schudel lehnt die Offerte ab; sie befürchtet, dadurch weniger arbeiten zu können.

In der Folge nimmt Heimleiter Dennler einen Kurswechsel vor. Er beruft sich nur noch auf Schudels Stundenlohn-Vertrag. Einzig dieser habe Gültigkeit. Und ihr 50-Prozent-Kontrakt sei nichtig, weil älter. Schudel verlangt ein Gespräch zur Klärung. Schliesslich findet man einen Termin im April 2017. Mittwoch, 17 Uhr, damit Schudels Tochter auch mit dabei sein kann.

Am besagten Tag arbeitet Helga Schudel in der Cafeteria. Schon um 13.30 Uhr kommt Stefan Dennler in Begleitung eines weiteren Kadermitarbeiters auf sie zu und bittet sie zu sich ins Büro. Dort wird Schudel, wegen der unerwarteten Vorverschiebung allein, von den beiden Männern lautstark bearbeitet, den Stundenlohn-Vertrag zu akzeptieren. Schudel blockt ab. Sie fragt: Geht man so etwa mit älteren Angestellten um? Darauf Dennler: «Wenn Sie das im Dorf erzählen …»

Der Heimleiter sei ein Mann
«vom Typ sibirischer Gefängniswärter,
der mit eisernem Besen kehrt»

Dennler bedroht sie später erneut: Er habe Aussagen, und zwar unterschriebene, von Bewohnern und von Leuten aus dem Dorf eingeholt, wie sie schlecht über Helga Schudel redeten. Diese angeblich unterzeichneten Aussagen sieht sie jedoch nie. Ein anderes Mal droht er ihr mit einer Klage, weil sie Unwahrheiten über ihn im Dorf erzählen würde.

Schudel wendet sich an Gemeindepräsident Philippe Brühlmann, der als Heimreferent fürs Personal verantwortlich ist. Doch der SVP-Mann verweist sie zurück an Heimleiter Dennler. So wurde aus einer Lappalie – einem Arbeitsvertrag – plötzlich ein Rechtsstreit. Schudel nimmt sich einen Anwalt, Jürg Tanner aus Schaffhausen.

«Im Altersheim läuft nichts falsch, dafür lege ich meine Hand ins Feuer»: Pfahlbauer und Gemeindepräsident Philippe Brühlmann (SVP).

Im Oktober 2017 erhält Schudel die eingangs erwähnte Arbeitsbeurteilung, in der ihr ein «niveauloses und nicht akzeptables Auftreten» vorgeworfen wird. Man rät ihr sogar, sich zu überlegen, «ob eine weitere Anstellung das Richtige ist». Kurios: Die Person, die sie derart miserabel beurteilt, kennt sie gerade einmal seit zwei Wochen. Die Beurteilungsperiode umfasst aber fünf Wochen.

Jürg Tanner, der sich seit Jahrzehnten mit arbeitsrechtlichen Fragen befasst, meint dazu: «So etwas habe ich noch nie gesehen. Und das, obschon meine Mandantin immer ordentliche Beurteilungen erhalten hat.»

Kurz darauf kommt eine Mitteilung vom Gemeinderat, unterzeichnet von Philippe Brühlmann. Sie bestätigt Heimleiter Dennlers Absicht, Helga Schudel nur noch im Stundenlohn anzustellen. Da macht Anwalt Tanner Druck. Schliesslich kommt es im Dezember 2017 doch noch zu einem Gespräch, an dem Schudel und Tanner sowie Philippe Brühlmann und Stefan Dennler teilnehmen. Man einigt sich auf einen Vergleich: Die 62-Jährige erhält eine Übergangsrente bis zur ordentlichen Pensionierung.

«Das Traurige ist», sagt Helga Schudel, «dass sich das alles hätte klären lassen. Aber es wurde überall abgeblockt. Gerade vom Gemeindepräsidenten bin ich schwer enttäuscht. Ohne Anwalt stünde ich jetzt mit leeren Händen da.»

Was sagen Philippe Brühlmann und Heimleiter Stefan Dennler zur Kritik? Auf Fragen, welche die «az» einzeln an die zwei Verantwortlichen geschickt hat, nimmt der Gemeindepräsident im Namen beider Personen Stellung: «Die Leitung wie auch die Gemeinde haben das Gespräch mit der betroffenen Person gesucht.» Weiter meint er, dass es natürlich sei, dass mit Veränderungen nicht immer sämtliche Mitarbeitende einverstanden seien. «Nichts bleibt immer gleich.» Die allermeisten würden Veränderungen akzeptieren, «und einige eben nicht».

Die Balken krachen
In der Lokalpolitik schaut man seit Jahren kritisch aufs Altersheim. Erst ärgerte man sich über die steigenden Kosten des Umbaus (von 25 auf aktuell 30,8 Millionen Franken). Kaum ist dieser Ärger verflogen, rückt die Personalsituation in den Fokus. Die Geschäftsprüfungskommission des Einwohnerrats hat im Februar diverse Fragen an den Gemeinderat gestellt – unter anderem auch zu den vielen Abgängen. So weit zum Internen.

Publik wird die Sache vor zwei Wochen. An der Sitzung des Einwohnerrats vom 15. März krachen die Balken im ersten Stock des Restaurants «Gemeindehaus». EDU-Einwohnerrätin Manuela Heller spricht aus, was viele andere denken: «Die Stimmung im Altersheim ist schlecht, viele langjährige Mitarbeitende erhielten eine schlechte Quali, es kam zu einer Kündigungswelle. Ich bin sehr erschüttert und wünsche mir eine Aufarbeitung.»

Heller weiss, wovon sie redet: Sie arbeitet bei der Spitex, die dem Altersheim angegliedert ist. Auch dort kam es zu Kündigungen wegen Querelen mit den Vorgesetzten. Sie selbst erhielt im vergangenen Jahr mehrere ungenügende Beurteilungen. Bislang waren ihr immer gute bis sehr gute Zeugnisse ausgestellt worden.

Pikant: Leiterin der Spitex ist seit Ende 2016 Madeleine Brühlmann, die Schwester des Gemeindepräsidenten. Nun ist die Rede von «enormem Druck», den die Spitex-Leiterin auf die Angestellten ausübe. «Über jede Arbeitsminute muss Rechenschaft abgelegt werden», sagt eine Person, die seit Jahren bei der Spitex arbeitet. «Aus dem kleinsten Vorfall wird ein Theater gemacht.»

«Am besten wäre ein Schnaps»
Wie die Balken im «Gemeindehaus» krachen, holt Gemeindepräsident Philippe Brühlmann zum Rundumschlag aus. Mit zum Teil exotischen Formulierungen: «Mir stinkt es, wie über gewisse Dinge im Dorf geredet wird.» Man ziehe gewisse Leute durch den Dreck. Man treibe gewisse Spielchen auf dem Buckel der Bewohner. «Ein Dauerabo bei Mike Shiva können wir leider nicht lösen.»

Auf die Nachfrage von Manuela Heller, wie viele Kündigungen exakt eingereicht wurden, antwortet Brühlmann: «Wir haben keine Kündigungswelle. Genau einer Person wurde gekündigt. Ich werde keine Personendaten bekannt geben. Dort unten läuft aber nichts falsch, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.»

Heimleiter Stefan Dennler nimmt als Zuschauer ebenfalls an der Einwohnerratssitzung teil. Der Zufall will es, dass er direkt neben dem «az»-Journalisten sitzt. Als die Einwohnerrätin Manuela Heller von der Kündigungswelle redet, sagt Dennler abschätzig: «Das ist unglaublich!» Ein Kollege will ihm darauf eine Cola­flasche reichen, doch er meint nur: «Am besten wäre jetzt ein Schnaps.»

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Der Altersheim-Umbau

Ende 2018 soll das Altersheim Thayngen fertig umgebaut sein. Budgetiert waren ursprünglich 25, zurzeit rechnet man mit 30,8 Millionen Franken für den Bau. Gemeindepräsident Philippe Brühlmann sprach auch schon von 35 Millionen (mehr dazu hier). Der Umbau wird einen Einfluss auf die Taxen für die Bewohnerinnen und Bewohner haben: Per 2019 soll die Grundtaxe gemäss Gemeinderat auf 139 Franken pro Tag steigen – ein überdurchschnittlicher Wert im Kanton Schaffhausen. (kb.)
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