«Die Verantwortung liegt bei uns Ärzten»

15. März 2018, Mattias Greuter
Gerontopsychiater Andreas Reich: «Gerade bei Temesta passe ich höllisch auf.»
Gerontopsychiater Andreas Reich: «Gerade bei Temesta passe ich höllisch auf.»

In der «az» vom 7. März berichteten Pflegende: Im Altersheim werden starke Medikamente sehr grosszügig zur Beruhigung eingesetzt. Ein Psychiater, der in mehreren Altersheimen tätig ist und diese Medikamente verschreibt, nimmt selbstkritisch Stellung.

az Andreas Reich, verschreiben Sie zu viele oder zu wenige Medikamente?
Andreas Reich Wahrscheinlich eher zu viele, diese Gefahr besteht immer.

Wie viele Medikamente sind im Altersheim zu viele?
Die goldene Regel lautet: Man sollte nicht mehr als vier bis fünf verschiedene Medikamente einnehmen. Im Altersheim kann man das aber völlig vergessen.

Warum?
Wenn mir eine neue Patientin oder ein neuer Patient vorgestellt wird, hat sie oder er in der Regel schon sieben oder acht Medikamente: zum Blutverdünnen, wegen des Cholesterins, zur Blutdruckbehandlung, wegen Diabetes und so weiter. Manchmal verschreibe ich ein weiteres, und dann sind das eher zu viele.

Der «az»-Artikel vom 7. März behandelt vor allem Medikamente wie Temesta und Quetiapin, die für ältere Menschen als «potenziell inadäquat» gelten, im Altersheim aber vielen Patienten abgegeben werden.
Eigentlich sollte man diese Medikamente im Alter gar nicht einsetzen, und es gibt dazu in der Regel keine Zulassungsstudien für Leute über 60. Dennoch werden sie verschrieben, auch von mir.

Trifft es zu, dass viele Altersheimbewohnerinnen und -bewohner diese Medikamente jahre- oder jahrzehntelang erhalten?
Gerade bei Temesta passe ich höllisch auf. In einer Krisensituation kann jemand von Temesta profitieren, nach zwei oder drei Wochen sollte man es aber wieder absetzen. Langzeit- oder Dauereinsätze kann es bei zwei Gruppen geben: Einerseits Leute, die das Medikament beim Eintritt ins Altersheim schon seit vielen Jahren nehmen, weil es vielleicht einst wegen einer Schlafstörung verschrieben wurde. In diesen Fällen spreche ich eine mögliche Reduktion oder die Absetzung an, was aber bei Temesta alles andere als ein Spass ist: Es macht abhängig, und der Entzug kann happig sein. Die zweite Gruppe sind Leute mit quälenden Angstzuständen, gerade wenn eine Depression mitschwingt. Für die Lebensqualität dieser Leute kann Temesta oder ein anderes Benzodiazepin Gold wert sein.

Und dafür nehmen Sie die Abhängigkeit in Kauf?
Ja, bei jemandem, der vom Medikament wirklich profitiert. Aber ich bespreche das detailliert, weise auf die Gefahr der Abhängigkeit und andere Nebenwirkungen wie erhöhte Sturzgefahr hin und suche einen gemeinsamen Entscheid.

Pflegende schilderten der «az», dass Temesta über Jahre als Schlafmittel verwendet wird, wofür es nicht zugelassen ist.
Das betrifft vermutlich vorwiegend demente Patienten mit Verwirrtheitszuständen. Da ist man schnell in einem Dilemma und läuft Gefahr – das hat die «az» richtig geschildert –, dass bei knappen Personalressourcen die Möglichkeiten fehlen, um einen Patienten allein mit pflegerischen Massnahmen zu beruhigen. Und dann ist Temesta eines der Medikamente, die eingesetzt werden.

Was können Sie gegen den übermässigen Einsatz dieser Medikamente tun?
Es gibt einiges, das vor dem Einsatz von Benzodiazepinen und Neuroleptika zum Zug kommen sollte. Als Erstes schaue ich mir bei einem neuen Patienten die Medikamentenliste an und versuche in der Regel, diese «auszumisten». In den meisten Fällen wird nicht regelmässig überprüft, ob alle Medikamente noch notwendig sind.

Ist das ein Vorwurf an die Hausärzte?
Jein … Das heisst: Ja, weil die Hausärzte dieses Problem eigentlich kennen und sensibilisiert sein sollten. Und nein, weil diese Überprüfung im Alltag wahnsinnig schwierig ist und auch mir nicht immer gelingt. Man müsste routinemässig alle zwei Monate alle Medikamente checken.

Je mehr Medikamente jemand nimmt, desto höher ist das Risiko von Wechselwirkungen. Überprüfen Sie das, wenn Sie ein neues Medikament verschreiben?
Ja, das überprüfe ich. Man hat keine Zeit, alles nachzuschlagen, aber in der Regel habe ich im Kopf, welche Kontraindikationen und Wechselwirkungen es gibt. Das Problem ist eher, dass ich als beigezogener Spezialist immer wieder gar nicht weiss, welche Leiden die Leute überhaupt haben. Auch die Pflegenden wissen es dann nicht, und es gibt keine vollständige Diagnosenliste.

Aber die braucht es?
Natürlich müsste es die geben.

Und warum exisitieren keine vollständigen Diagnosenlisten?
Gute Frage. Das passiert immer wieder und überall, man fahndet oft im Dunkeln. Viele Leute haben eine Herz- oder Nierenstörung oder sonst irgendetwas, von dem wir gar nichts wissen.

Welche Alternativen zu Temesta oder Quetiapin gibt es?
Nach der Überprüfung der Medikamentenliste diskutiere ich mit den Pflegenden, welche sozialen und pflegerischen Möglichkeiten sie haben. Sind diese ausgeschöpft oder ist dafür keine Zeit, geht es in die Medikamentenecke. Ich versuche es immer wieder mit Baldrian oder mit Mitteln, die man eigentlich gegen Heuschnupfen nimmt: Diese machen auch müde, haben aber weniger Nebenwirkungen. Aber aus Mangel an Möglichkeiten kommt man irgendwann bei den angesprochenen Medikamenten an. Dabei gilt bei alten Menschen: Start low and go slow, also mit kleiner Dosierung beginnen und langsam steigern.

Pflegende setzen diese Medikamente aufgrund des Zeitdrucks häufiger ein, als es vielleicht notwendig wäre – wie könnte man die Pflege entlasten?
(Reibt den Daumen am Zeigefinger, um das Zählen von Geld zu signalisieren)

Es ist also eine Kostenfrage?
Na sicher. Je mehr Man- oder Woman­power Sie auf der Abteilung haben, desto mehr können Sie pflegerische und soziale Möglichkeiten als Alternative zu Medikamenten nutzen. Entscheidend sind Anzahl und Qualifikation der Pflegekräfte. Beides kostet Geld.

Die Pflegenden tragen auch eine Verantwortung, weil sie situativ über den Einsatz eines als Reserve verordneten Medikaments entscheiden. Ist die Pflege sensibilisiert für das Problem?
Auch hier: Jein. Das hängt stark vom Team ab. Beispielsweise beobachte ich im Künzleheim derzeit eine sehr gute Entwicklung und engagierte Teams. Von dort kommen auch kritische Rückfragen zu Medikamenten. In dieser Situation habe ich weniger grosse Hemmungen, etwas als Reserve zu verordnen, denn ich kann darauf vertrauen, dass die Pflegenden vorsichtig damit umgehen. Es gibt aber auch andere Teams, bei denen ich den Spielraum für die Reservemedikation schmaler gestalte.

Können Sie einschätzen, wie gross der Anteil der Altersheimbewohner ist, bei denen man die angesprochenen Medikamente reduzieren könnte?
Nicht genau. Als Spezialist für Alterspsychiatrie und -psychotherapie sehe ich nur eine kleine Auswahl aller Bewohner, und zwar eher diejenigen, bei denen die Pflege schwierig ist. Das ist gewissermassen die Spitze des Eisberges, und da ist der Spielraum meistens schon ziemlich eng. Bei einigen von ihnen würde sich aber sicher auf der pflegerischen Schiene etwas machen lassen, vielleicht bei zehn bis zwanzig Prozent.

Wo müsste man für eine Reduktion der Abgabe dieser Medikamente den Hebel ansetzen?
Dort, wo Ihr Artikel angesetzt hat: Bei der Sensibilisierung und Aufklärung. Im Grunde geht es nicht um die Frage, wie wir mit alten Menschen umgehen, sondern darum, wie wir mit uns im Alter umgehen. Wir alle werden irgendwann in dieser Situation sein. Darum ist es ist verrückt, dass wir das ausblenden und «Alte im Altersheim» als eine andere Gruppe Menschen verstehen – das sind ja wir in der Zukunft. Das müssen wir uns als Gesellschaft klarmachen und einen entsprechenden Umgang finden. Das kostet Geld, und dieses Geld müsste man von der Politik einfordern. Im Alltag aber liegt die Verantwortung bei uns Ärztinnen und Ärzten, weil wir die Medikamente verschreiben.

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Dr. Andreas Reich
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist auf ältere Patienten spezialisiert. Er betreibt eine eigene Praxis und arbeitet mit der Mehrheit der Schaffhauser und Neuhauser Altersheime zusammen. Mit mehreren Pflegeteams hat er Weiterbildungen zur Sensibilisierung für das Problem von zu vielen und zu starken Medikamenten im Alter durchgeführt.
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