Sedierte Senioren

14. März 2018, Mattias Greuter
Temesta und Seroquel: Zwei für Senioren «potenziell inadäquate Medikamente», die in Altersheimen aber täglich verwendet werden. Foto: Stefan Kiss
Temesta und Seroquel: Zwei für Senioren «potenziell inadäquate Medikamente», die in Altersheimen aber täglich verwendet werden. Foto: Stefan Kiss

Alarmierend viele Menschen erhalten im Altersheim Medikamente, die laut Expertenstimmen bei älteren Menschen möglichst nicht eingesetzt werden sollten – auch in Schaffhausen.

«Die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner im Altersheim wird mit starken Neuroleptika und Schlafmedikamenten behandelt, zum Teil täglich und über Jahre hinweg», sagt ein Pflegender, der seit vielen Jahren in einem Schaffhauser Heim arbeitet. Es geht um Tabletten, von deren Einsatz im Altersheim Experten abraten.

Im November 2017 erschien der Arzneimittelreport der Krankenversicherung Helsana. Sie hatte erstmalig ihre Daten auf die ganze Schweiz hochgerechnet und so aufgezeigt, dass Menschen in Pflegeheimen im Durchschnitt 9,3 verschiedene Medikamente erhalten. 85 Prozent der Pflegeheimbewohner nehmen fünf oder mehr Medikamente.

Der Helsana-Report richtet ein besonderes Augenmerk auf potenziell inadäquate Medikamente (PIM): Es handelt sich dabei um eine Liste von Wirkstoffen, die bei älteren Menschen häufig unerwünschte und zum Teil schwere Nebenwirkungen hervorrufen und zu einer erhöhten Sterblichkeit führen können. «Auf solche Medikamente sollte eigentlich verzichtet werden», sagte eine ­Helsana-Ärztin gegenüber dem «Tages­anzeiger». Aber: Laut dem Bericht erhalten 80 Prozent der Heimbewohner mindestens eines dieser Medikamente mit potenziell inadäquaten Wirkstoffen. Zwei der wichtigsten: Lorazepam und Quetiapin.

Lorazepam ist vor allem in der Form des Medikaments Temesta und seiner Generika gebräuchlich. Es ist zur Behandlung von Angst-, Spannungs- und Erregungszuständen zugelassen und wird auch als Schlafmittel eingesetzt. Es kann abhängig machen, führt häufig zu einer Verschlechterung des Gedächtnisses und erhöht die Gefahr von Stürzen. Die Behandlungsdauer sollte deshalb kurzgehalten werden, bei älteren Menschen höchstens sieben bis zehn Tage. Doch in Altersheimen ist es eines der am häufigsten genutzten Medikamente, wie der Helsana-Bericht zeigt.

Die «az» hat mit zwei Pflegenden* gesprochen, die in einem Altersheim im Kanton Schaffhausen arbeiten. Sie bestätigen, dass Lorazepam bei sehr vielen Patienten täglich und über längere Zeit eingesetzt wird.

Quetiapin ist der Hauptwirkstoff des Neuroleptikums Seroquel und seiner Generika. Es dient zur Behandlung von Schizophrenie und bipolaren Störungen. Für den Einsatz bei Schlafstörungen und Unruhe ist es nicht zugelassen, doch es gibt Hinweise darauf, dass es dafür häufig eingesetzt wird. Laut dem Helsana-Bericht hat die Verschreibung von Quetiapin in Altersheimen seit 2013 um 40 Prozent zugenommen. 15 Prozent der Pflegeheimbewohner erhielten es in einem Jahr mindestens dreimal verschrieben, und zwar bei Packungsgrössen von 60 oder 100 Tabletten – es wurde also langfristig eingesetzt. Auch in Schaffhausen sei der Gebrauch als Schlafmedikament üblich, in der ärztlichen Verordnung steht dann jeweils «bei Unruhe», berichtet ein Pflegender der «az».

Mehr Schaden als Nutzen
Mit den Gefahren von Polypharmazie, also der gleichzeitigen Verordnung von verschiedenen Medikamenten, und den potenziell inadäquaten Wirkstoffen beschäftigt sich auch die Stiftung Patientensicherheit. Liat Fishman, die das Programm «Sichere Medikation in Pflegeheimen» leitet, erklärt, dass ältere Menschen anders auf bestimmte Medikamente reagieren; die Wirkung könne stärker sein. Gerade bei den potenziell inadäquaten Wirkstoffen gebe es «besondere Risiken, die im Alter den Nutzen übersteigen können».

Die Stiftung Patientensicherheit hat vor vier Wochen die Ergebnisse einer Befragung der Pflegedienstleitungen von über 400 Schweizer Alters- und Pflegeinstitutionen veröffentlicht. Mehr als die Hälfte der Befragten stimmt der Aussage zu, dass generell zu viele Medikamente abgegeben werden. Nur in einer kleinen Minderheit der Heime wird mit einer Liste von potenziell inadäquaten Medikamenten gearbeitet. In 35 Prozent der Heime gibt es laut der Befragung keine systematische Überprüfung der individuellen Medikation in fest definierten Intervallen. Deshalb sagt Liat Fishman: «Aus Sicht der Stiftung Patientensicherheit braucht es mehr Systematik und Regelmässigkeit bei der Überprüfung und Neuevaluation der Medikamente.» Ein Schaffhauser Pflegender mit jahrelanger Berufserfahrung bestätigt diese Einschätzung: «Es wird zu wenig überprüft, wie lange und ob jemand ein bestimmtes Medikament noch braucht.»

Gestresstes Personal
Eine Erklärung für die häufige Verwendung von Medikamenten wie Temesta (Lorazepam) und Seroquel (Quetiapin) liegt in der Personalknappheit in Altersheimen: Wenn für die Betreuung eines unruhigen Patienten Zeit und Personal fehlt, greifen Pflegende schnell zur Tablette. Gerade in hektischen Spät- und Nachtschichten sei das alltäglich, sagen zwei Pflegende gegenüber der «az». Viele Bewohner haben eines oder mehrere der Medikamente entweder für die tägliche Einnahme oder als Reserve verordnet. Ein Pflegender sagt: «Auch ich habe schon zu früh zu starken Medikamenten gegriffen», ein zweiter ist überzeugt, dass in vielen Fällen die Sedierung mit Temesta nicht notwendig wäre, wenn die Pflege genügend Zeit hätte.

Die dämpfenden Wirkstoffe stellen die Patienten ruhig, sie schlafen leichter ein. Problematisch kann es aber werden, wenn ein Bewohner in diesem Zustand dennoch aufsteht, um beispielsweise zur Toilette zu gehen: Es kann häufiger zu Stürzen kommen. Ein Pfleger bestätigt der «az», er habe schon öfter erlebt, dass jemand unter dem Einfluss von Lorazepam gestürzt sei. In manchen Fällen führte dies zu Spitalaufenthalten – ein Schenkelhalsbruch kann im hohen Alter oft lebensgefährlich sein.

Die beiden Pflegenden, die mit der «az» gesprochen haben, haben ihren Umgang mit starken Medikamenten hinterfragt und versuchen, ihren Ermessensspielraum bei der Abgabe weniger stark zu nutzen. In manchen Fällen reicht Baldrian statt Temesta, manchmal hilft auch ein kleines Ritual wie das Singen eines Liedes – aber das braucht Zeit, und die ist im Altersheim knapp. Beide Pflegenden sagen, es habe an ihren Arbeitsplätzen in den letzten Jahren eine gewisse Sensibilisierung für das Thema stattgefunden und es würde heute immerhin etwas weniger schnell und weniger intensiv zur pharmazeutischen Keule gegriffen. Dennoch seien der aus Expertensicht gefährliche Langzeiteinsatz von Lorazepam und die nicht zugelassene Verwendung von Quetiapin zur Behandlung von Schlafstörungen und Unruhe alltäglich.

* Für die Anonymität der zwei Pflegenden im Artikel gibt es zwei Gründe: Zum einen ihr eigener Schutz, zum anderen ist es ihnen ein Anliegen, dass ihr Arbeitsplatz nicht identifiziert werden kann: Sie wollten nicht den Anschein erwecken, dass die geschilderten Probleme in den Heimen, in denen sie tätig sind, gravierender wären als anderswo.

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Was können Sie tun?
Wenn Sie als Heimbewohner oder Angehörige das Gefühl haben, die Medikation sei zu stark, sollten Sie das Gespräch mit dem Pflegeteam oder dem Heim- oder Hausarzt suchen. Sie können fragen, ob ein bestimmtes Medikament reduziert oder kontrolliert abgesetzt werden kann. «Oft sind es Angehörige, die Nebenwirkungen beobachten», sagt Liat Fishman von der Stiftung Patientensicherheit, «und sie sollten diese melden.» Auch sei es wichtig, einen Verdacht auf Verwechslung oder Fehldosierung von Medikamenten anzusprechen.

Nicht in jedem Fall und nicht bei jedem Medikament ist eine Reduktion oder Absetzung möglich oder sinnvoll – dennoch kann ein Gespräch den Input geben, die Medikation kritisch zu überprüfen. Auf keinen Fall sollten verordnete Medikamente auf eigene Faust reduziert oder abgesetzt werden, sondern nur in Absprache mit dem Fachpersonal.
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