Der Arzt und die Kultur

26. Februar 2018, Andrina Wanner
«Es hätte mich gefreut, wenn Neunkirch ein Kulturzentrum geworden wäre.» Mit 90 will Heinrich Pestalozzi sein kulturelles Engagement ad acta legen. Das wäre bereits nächstes Jahr. Foto: Stefan Kiss

In Heinrich Pestalozzis Brust schlagen zwei Herzen: eines für den Arztberuf, den er 40 Jahre lang in Neunkirch ausübte, das andere für die Kunst – als Kulturveranstalter holt er sie regelmässig ins Städtchen. Ein Spleen? Vielleicht. Die Neunkircher sehen es jedenfalls so.

Das barocke Haus mit dem grossen, roten Scheunentor findet man nur, wenn man will – in einer der vielen stillen Ecken des Städtchens. Symbiotisch fügt sich das Rietmannsche Haus in die Häuserzeile der Herrengasse ein. Der Hausherr bittet ins Entrée, das er bereits für das kommende Konzert vorbereitet hat. 70 Personen haben sich angemeldet, die Stühle stehen eng, auch die kleine Bühne musste erweitert werden. Der grosse Raum ist unbeheizt, also geht es über eine Eichentreppe in die warme Stube im zweiten Stock. Heinrich Pestalozzi erklimmt die Stufen mit links. In zwei Wochen wird er 89 Jahre alt.

Und daneben das Theater

Im Jahr 2000, er hatte seine Praxis gerade seinem Nachfolger übergeben, kaufte Pestalozzi den Ostflügel des Rietmannschen Doppelhauses, das aus zwei symmetrischen Gebäudeteilen mit zentralem Ökonomiegebäude besteht. Ein Jahr lang reparierte er die Stuckaturen an den Decken der repräsentativen Räume, fast 1000 Arbeitsstunden investierte der damals 71-Jährige. «Als Landarzt war ich das Arbeiten gewöhnt, ich arbeitete nie unter 70 Wochenstunden.» War das Haus ein Projekt für den sanften Übergang in den Ruhestand? Irgendwie habe er sich das Arbeiten ja abgewöhnen müssen, entgegnet Pestalozzi lächelnd. Von hundert auf null – das wäre nicht denkbar gewesen für einen unruhigen Geist, wie er einer ist.

Dass Heinrich Pestalozzi Arzt wurde wie sein Grossvater, war nicht unbedingt der vorbestimmte Weg. In der akademischen Berufsberatung hatte er damals eines seiner Theaterstücke vorgelegt. Es hiess Die Luftschlossruine, eine Auseinandersetzung mit seiner beweihräucherten Familientradition. «Ich fand, dass es für eine postpubertäre Reaktion ziemlich geistreich war. Item – ich dachte, der Berater würde mir sagen, ich solle eine künstlerische Studienrichtung wählen.» Das tat er nicht. Er glaubte wohl nicht daran. «Ich war später manchmal froh, dass ich mit meinen Texten nicht mein tägliches Brot verdienen musste», so Pestalozzi. Ein Gymnasiallehrer wie der Vater wollte er aber auch nicht werden: «Der Beruf war mir wohl zu nah.» Also Medizin: «Ich war sehr gerne Arzt.»

Und daneben das Theater. Schon als Kind besass der Stadtzürcher ein eigenes Marionettentheater, mit dem er selbstverfasste Stücke inszenierte. Ist an ihm ein Kulturmensch verloren gegangen? Nein, verloren war er nie: Das Theater zieht sich wie ein roter Faden durch Pestalozzis Leben. Nach dem frühen Tod seiner Frau investierte er oft seine Ferien in Theaterprojekte, wie zum Beispiel das Schaffhauser Sommertheater.

Schon 1964, er lebte seit vier Jahren im Klettgau, schrieb er ein Stück für die Schule in Neunkirch, das ihn drei Monate lang in jeder freien Minute beschäftigte. Später verfasste er Texte für Jubiläen sowie grössere und kleinere Festspiele. In den Achtzigern wurde er durch Zufall auch noch Maskenbauer: Für ein wichtiges Stück von Jean Grädel wurden dringend Masken benötigt. Pestalozzi, skeptisch, ob er das wirklich können würde, sprang für einen Freund ein. Es musste einfach gehen. Seine Ausbildung bestand aus einem zehnminütigen Crashkurs am Telefon, der Rest war «Learning by doing».

1989 stellte er Masken für eine Romulus-Inszenierung des Schaffhauser Sommertheaters her: «Sie kosteten mich zwar drei Wochen Ferien, dafür war ich danach Maskenbildner.» Seine musische Ader hat Pestalozzi weitergegeben an seine vier Kinder, ein Enkel spielt mit zwölf Jahren bereits Violinkonzerte von Bruch. Er selber habe nie aktiv musiziert. «Mir liegt das Theater näher als die Musik.»

Aber es wird vergehen

Seit zwei Jahren ist Heinrich Pestalozzi auch Ehrenmitglied des Museumsvereins. Warum, weiss er nicht so genau. Er habe ja eigentlich nichts für den Verein getan, sagt er. Ausser eben einen grossen Beitrag dazu geleistet, dass ein altehrwürdiges Haus erhalten bleiben konnte.

Gebaut wurde das Haus von Johannes Rietmann: «Üsen General» war er, der stattliche und hochdekorierte Rietmann, der es vom einfachen Reisläufer zum Generalfeldmarschall des Königs von Sardinien gebracht hatte und 1743 nach 40 Jahren Kriegsdienst steinreich in die
Heimat zurückkehrte. Im Schaffhauser Thiergarten richtete er sich einen hübschen Alterssitz ein. In Neunkirch liess er 1763 für seine Schwester und deren Familie das Rietmannsche Doppelhaus bauen. Das Porträt des angesehenen Schaffhauser Bürgers hing jahrelang unbeachtet in der Rathauslaube, aber als Heinrich Pestalozzi das Gemälde einmal für einen Anlass ausleihen wollte, war das dann doch nicht recht. Nun empfängt eben eine fotografische Reproduktion die Gäste in der Herrengasse.

Wo heute die Bühne steht, befanden sich einmal Amboss und Esse – das ursprünglich repräsentative Erdgeschoss mit heute wieder sichtbarer Stuckdecke diente über die Jahrhunderte vielen Zwecken, sogar als Schmiede wurde es genutzt. Die Pferde, die zum Hufbeschlag kamen, hatten den Boden aus Schleitheimer Sandstein zertrampelt; auch dieser liegt heute wieder sorgfältig restauriert.

Am Tag der offenen Tür nach der Renovation sei denn auch tout Schaffhouse gekommen, erinnert sich Pestalozzi. Man freute sich mit ihm über die gelungene Renovierung. Damals fragte er sich, wie man den Raum im Erdgeschoss nutzen könnte. Er war nicht geeignet als Wohnung, zu dunkel für Büroräume, ein Ladengeschäft würde in dieser versteckten Ecke Neunkirchs nicht laufen – was also tun? Wenn er leer bliebe, würde er sehr bald «tötelen».

Begonnen hat Pestalozzi zusammen mit dem damaligen Kammgarn-Koch Andreas Bossert mit der Organisation von Tafelrunden: Essen mit ein wenig Kultur. Irgendwann ist das Konzept aber im Sand verlaufen. «Mir war die Kultur ohnehin wichtiger als das Essen, also führte ich die Veranstaltungen als kulturelle Anlässe mit offeriertem Umtrunk weiter.» Wie er das Programm gestalte? Er lacht: «Ich mache gar nichts. Die Künstler kommen auf mich zu – das ist wirklich erstaunlich.»

Eigentlich hätte er schon lange aufhören wollen, aber es kämen immer neue Auftrittsanfragen. Und Heinrich Pestalozzi mag es, Freunde im Haus zu haben. Die Atmosphäre ist familiär, man sitzt nach den Auftritten zusammen und trinkt noch ein Gläschen Wein, kommt mit den Künstlerinnen und Künstlern ins Gespräch. Das schätzen Pestalozzis Gäste, die vor allem aus seinem grossen Freundeskreis stammen.

Die Neunkircher Nachbarn kommen selten – es sei seltsam, denn die Veranstaltungen seien stets öffentlich und die Leute somit versichert, dass jeder willkommen sei. Doch nur wenige gingen darauf ein. Woran das liegt? Schwellenangst, vielleicht. Heinrich Pestalozzi erzählt und hört zu, ohne den Blick abzuwenden. Es sei unglaublich, wie sich das Konzept über die Jahre eingespielt habe. Bisher fanden über 140 Veranstaltungen statt. Aber es wird vergehen.

Er und seine Partnerin hätten den Dreh zwar mittlerweile raus, zudem komme immer Hilfe von allen Seiten. So sei der Aufwand ganz erträglich, sagt der bald 89-Jährige. Er habe zwar Rückenprobleme, aber wer habe die nicht. «In meinem Alter könnte man Dümmeres haben.» Bis 90 wolle er weitermachen. Und danach? «Es hätte mich gefreut, wenn Neunkirch ein Kulturzentrum geworden wäre. Aber ich werde aufhören, ohne dass es so gekommen sein wird.» Man könne nicht immer gegen den Strom schwimmen. «Die Neunkircher sehen mein Engagement als Spleen, und das ist es auch. Aber ich freue mich, jederzeit weitere Bekanntschaften zu machen. Ich denke, man sollte offener sein miteinander. Menschen sind mir wichtig.»

In Neunkirch gibt es den «W3rkH0f», eine Kreativ-Werkstatt für Kunst und Kultur in einer alten Metallwerkstatt. «Dort könnte es kulturell weitergehen. Ich werde den Betreibern jedenfalls meine Kontakte geben. Sie könnten mich beerben. Sie müssen nur wollen!»

Den nächsten Anlass im Rietmannschen Haus gestaltet das «Quartett Consonances» mit «Musique Tzigane». Er ist bereits ausverkauft. Am 31. März um 19.30 Uhr wird es deshalb eine Wiederholung geben, Anmeldung unter Tel. 052 681 50 81 oder h.pestalozzi@bluewin.ch.