Der Fall Sony S.

22. Februar 2018, Kevin Brühlmann
Auf dem Parkplatz hinter einer Konstanzer Shisha-Bar wurde Sony S. getötet. Anschliessend wurde dort eine Gedenkstätte errichtet (Symbolbild).

 

Der 19-jährige Herblinger Sony S. wurde im März 2017 erstochen – von einem Minderjährigen, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Die tragischen Hintergründe eines Falls, bei dem niemand weiss: Warum?

 

Ein Polizeiauto biegt in ein schmales Strässchen ein, in ein Wohnquartier am Rande Herblingens. Ins Quartier von Sony S.

Doch Sony ist vor viereinhalb Stunden verstorben. Ein Messerstich in die Lunge um 01:35 Uhr. Verblutet um 02:25 Uhr im Klinikum Konstanz. «Aktenzeichen: Mord» steht in der Polizei-Akte, die um 05:25 Uhr erstellt wird.

Sony war 19 Jahre alt. Er war nie in Konflikt mit dem Gesetz geraten.

Es ist der 11. März 2017, Samstagmorgen um sieben Uhr. Der Frost der Nacht krallt sich noch am Boden fest, als zwei Polizisten und eine Polizistin aus ihrem Auto steigen. Sie stossen das eiserne Gartentor zum Haus der Familie S. auf. Sie klingeln.

Herr S., Frau S., dürfen wir hereinkommen?

Seit diesem Tag bleibt der riesige Bildschirm im Wohnzimmer der Familie S. schwarz. Kein Radio, keine Musik. Die Wände sind kahl, Fotos sucht man vergeblich.

«Der Täter hat nicht nur eine Person umgebracht, sondern eine ganze Familie», sagt Vater S. Der kräftige Mann um die 50 sitzt am langen Esstisch der Familie. Sein Gesicht ist ernst, nicht unfreundlich. Darin dunkelbraune Augen. Rundherum dunkelbraune Augen. Sonys Mutter, seine drei Schwestern, alle älter, und ein Onkel. Sie alle sitzen am Tisch.

Anfang der 1990er-Jahre kommt die Familie aus dem Kosovo in die Schweiz. Der Vater arbeitet hier als Bauarbeiter, die Mutter als Putzfrau.

Mittagessen gibt es nicht mehr um viertel nach zwölf, sagt die Mutter. Dann ist Sony jeweils nach Hause gekommen; er hat in der Nähe als Logistiker gearbeitet. Sie zeigt ein Bild von ihrem Sohn: Ein schlanker, junger Mann lächelt einem entgegen. Die schwarzen Haare hat er zur Seite gekämmt. Seine Augen: dunkelbraun.

Eigentlich heisst er ja Ferdison, sagt die älteste Schwester, aber Sony, das passe einfach so gut zu seiner optimistischen, hilfsbereiten Art.

Draussen ist es schon dunkel, wie die Familie S. um ihren langen Tisch sitzt. Es ist ein Montag Mitte Februar 2018. Fast ein Jahr ist vergangen, seit Sony gestorben ist.

Ermordet, sagt die eine Schwester mit aller Härte.

Grundlos ermordet, sagt die andere Schwester.

Unschuldig ermordet, sagt der Vater.

Und darum wollen sie an die Öffentlichkeit gehen: weil Unwahrheiten verbreitet würden. Weil behauptet werde, Sony habe den Messerstich provoziert.

«Die Tat erfolge aus reinem Geltungsdrang»
Staatsanwältin Claudia Fritschi

Unschuldig ermordet, das sagt auch die Konstanzer Staatsanwältin Claudia Fritschi. Sony sei «aus reinem Geltungsdrang, aus Machtdemonstration und möglicherweise auch aus Frust darüber, dass [er und drei Freunde] sich nicht auf eine Schlägerei einlies­sen und sich rein passiv verhielten», umgebracht worden. Und der Anwalt der Familie S. meint: «Der Täter hat grundlos zugestochen, ohne Gegenwehr, ohne Aggression seitens des Opfers.»

Das Landgericht Konstanz eröffnete den Prozess am 23. Januar 2018. Ein zur Tatzeit 17-Jähriger ist des Mordes angeklagt; ein damals 21-Jähriger muss sich als Mittäter wegen Nötigung und gefährlicher Körperverletzung verantworten.

Die Maximalstrafe für Mord im deutschen Jugendstrafrecht beträgt zehn Jahre Gefängnis. In diesem Fall fordert die Staatsanwaltschaft acht Jahre. Die Verteidigung plädiert auf Körperverletzung mit Todesfolge – Haftstrafe unter acht Jahren. Für den erwachsenen Mitangeklagten fordert die Staatsanwaltschaft zweieinhalb Jahre Haft. Das Urteil wird morgen Freitag, dem 23. Februar, verkündet.

Weil der Haupttäter zum Tatzeitpunkt noch minderjährig war, hat sein Verteidiger den Ausschluss der Öffentlichkeit
beantragt. Mit Erfolg. Seither hat man kaum mehr Einzelheiten vom Prozess vernommen.

Der «az» liegen zahlreiche Dokumente vor, von Haftbefehlen und Zeugenbefragungen bis zu Protokollen von Tätereinvernahmen, die bislang unbekannte Einblicke in den Fall ermöglichen.

 

Niemand weiss warum

Am Freitagabend, 10. März, wenige Stunden vor der Tat, wird Sony von seiner Freundin Mehtap* zuhause abgeholt. Die damals 20-jährige kaufmännische Angestellte hat den BMW ihrer Schwester ausgeliehen. Die beiden fahren nach Konstanz, zur Shisha-Bar «Pasha of Dubai», die im Industriegebiet liegt. 750 Meter Luftlinie von der Schweizer Grenze entfernt. Unterwegs gabeln Sony und Mehtap ein Pärchen auf, mit dem sie sich verabredet haben, Sonys Cousine und deren Freund.

Um 00:28 Uhr betreten die vier die Bar. Trinken ein Redbull, eine Cola. Rauchen Wasserpfeife. Es läuft arabische Musik und Musik aus dem Balkan. Es ist aber wenig los, und bald beschliessen sie, nach Hause zu fahren.

Eine Überwachungskamera zeigt, wie sie das Lokal um 01:32 Uhr verlassen.

Ihnen folgen ein paar junge Männer, die am Nebentisch gesessen haben. Darunter ist auch ein grosser, eher dicker blonder und ein etwas kleinerer, dünner Typ mit sehr kurzem Haar.

Sie folgen Sony und seinen Freunden zum BMW. Der Blonde zieht ein Klappmesser aus der Jacke und bedroht die Gruppe zusammen mit dem kleineren Typen. Sie fordern eine Entschuldigung von Sony, warum, weiss er nicht. Er entschuldigt sich trotzdem. Sie fordern Sony auf, den einen auf die Stirn zu küssen, warum, weiss er noch immer nicht. Er macht es dennoch, er will keine Probleme.

Plötzlich schlägt der kleine Dünne dem Freund von Sonys Cousine ins Gesicht, sodass der ans Auto klatscht. Sony versucht zu schlichten. Da sticht der Blonde mit seinem Klappmesser zu. Er trifft Sony in der Nähe der linken Schulter, dann flüchtet er.

Sony schleppt sich in die Bar, blutüberströmt, ruft um Hilfe. Vom BMW bis zum Lokaleingang zieht sich eine grosse Blutspur. Bald verliert Sony das Bewusstsein. Man ruft die Ambulanz. Man versucht, die Blutung mit T-Shirts zu stoppen.

Um 01:40 Uhr fährt die Polizei ein; kurz darauf die Sanität, die Sony ins Konstanzer Klinikum bringt.

Um 02:25 Uhr ist Sony tot.

Spuren des tödlichen Messerstichs gegen Sony S. Foto: Marco Latzer / «Blick»

 

Im Gutachten der Obduktion steht wenige Tage später: «Todesursache: Blutungsschock infolge singulärer Stichverletzung oberhalb des linken Schlüsselbeins mit Läsion der linken Drosselvene und des linken Lungenoberlappens.»

Die Polizei führt noch in der Nacht der Tat Vernehmungen mit Zeuginnen und Zeugen durch. Um 9:45 Uhr wird Sonys Freundin Mehtap befragt; sie ist nun seit über 24 Stunden auf den Beinen. Bis um 11:05 Uhr wird sie dort behalten. Auch Sonys Cousine und deren Freund sagen aus. Sie alle schildern den Tatverlauf ungemein detailliert. Manche Befragungen müssen abgebrochen werden, weil die Zeugen «immer weinerlicher» werden, wie die Polizei vermerkt.

Niemand der Aussagenden hat jedoch eine Ahnung, warum Sony angegriffen wurde. Und wenn man die Akten der Täter studiert, vom dicken Blonden und vom dünnen Typen, kommt man zum Schluss: Auch sie wussten es vermutlich nicht.

Sony S. ist dem Täter noch nie zuvor begegnet.

 

Der Täter ist vorbestraft

Jonas G.*, so heisst hier der Blonde, der auf Sony einstach. Jahrgang 2000. Er stammt aus einer gutbürgerlichen Konstanzer Familie; die Eltern, mittlerweile geschieden, engagierten sich in der Stadt. Zunächst war er gut in der Schule, rutschte aber mit der Zeit ab. Zuletzt hatte er das Gymnasium abgebrochen, und zum Zeitpunkt der Tat war er arbeitslos.

2016 wurde Jonas vom Jugendschöffengericht bereits wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Die einjährige Freiheitsstrafe musste er aber nicht antreten, da man eine «günstige Sozialprognose» erkannte; stattdessen erhielt er zehn Monate auf Bewährung.

Den dünnen Typen mit der Faustattacke, ein 21-Jähriger, der nun als Mittäter vor Gericht steht, lernte Jonas bei einer Schlägerei kennen. An einer Halloween-Feier schlug er dem 21-Jährigen einen Zahn aus. Was für seine Mittäterschaft offenbar kein Hindernis darstellte.

In einer Stellungnahme, adressiert an die Staatsanwaltschaft Konstanz, schildert der Verteidiger von Jonas G. den Tat­hergang: Jonas’ Mutter sei am Freitag, 10. März, «in desolatem Zustand» nach Hause gekommen und habe «den ganzen Nachmittag geweint».

Also habe sich der 17-Jährige entschieden, mit einem Kollegen «einen drauf [zu] machen». Jonas habe eine ganze Flasche Wodka getrunken und ein halbes Gramm Kokain zu sich genommen. In der Shisha-Bar «Pasha of Dubai» seien noch ein Wodka-Redbull und diverse Shots dazugekommen. Und da habe ihn jemand vom Nebentisch dauernd angestarrt. Auf dem WC habe dieser Typ (gemeint ist Sonys Freund) seinem Kollegen zugeraunt, «er würde ihn und/oder seine Mutter ficken».

Als Jonas von diesem Zwischenfall erfuhr, habe er beschlossen, Sonys Freund «eine Abreibung zu verpassen». Dazu vermerkt Jonas’ Anwalt: «In der Bar gab es weder eine konkrete Auseinandersetzung noch einen (nachvollziehbaren) Anlass für das weitere Geschehen auf dem Parkplatz.» Und weiter: Jonas habe nur auf die rechte Schulter zielen wollen, nicht töten – «soweit eine konkrete Absicht des Beschuldigten angesichts seines desolaten, weil betrunkenen Zustands überhaupt noch festgestellt werden kann».

«Zusammenfassend bleibt festzuhalten», schreibt der Rechtsanwalt, «dass der Beschuldigte einräumt, den Geschädigten durch einen Messerstich tödlich verletzt zu haben.»

 

«Selber schuld»

Nach dem tödlichen Messerstich flieht Jonas G. mit einem Taxi. Später schreibt er seiner Freundin per Whatsapp-Chat –  eine Kopie des Chatverlaufs liegt der «az» vor. Offenbar weiss Jonas’ Freundin schon von seiner Tat, als er ihr schreibt.

04:14 Uhr
Freundin: «Nein das heute musste nicht sein… ihr macht das nur dammit ihr euch pisser zu pisser beweisen könnt… so dumm einfach… und du musst dann natürlich der schlauste sein und jemanden absteckst…»
(…)
Jonas: «Ich kann mich aufjedenfall nichtmehr Dubai blicken lassen»
Freundin: «JA BRAVO»
(…)
Jonas: «Du hast keine Ahnung von Schlägereien. Also misch dich nicht ein. Wenn die meinen zu 4 zu kommen … Hab ich das recht … Mich zu verteidigen … Egal wie»
(…)
Freundin: «Junge du hast ihn Brust gestochen bist du behindert im Kopf»
Jonas: «Ja selber schuld»

04:27 Uhr
Jonas: «Ich lösch mein Facebook jetzt»
Freundin: «Okay … Er ist tot»
Jonas: «Hör auf darüber zu schreiben»
(…)
Jonas: «Tu so als wäre es nicht passiert … War nie da»

Am 12. März um 23 Uhr nimmt man Jonas G. in Konstanz fest. Tags darauf wird er zur Justizvollzugsanstalt Ravensburg gefahren. Der zuständige Kriminalkommissar setzt sich für die eineinhalbstündige Fahrt auf die Rückbank zu Jonas. Sie führen ein Gespräch, das der Polizist später grob protokolliert.

Der 17-Jährige erzählt ihm, dass er den Fall in den Nachrichten verfolgt und gehofft habe, dass er an ihm vorbeigehe. Es sei einfach Pech, so Jonas weiter, dass er zu diesem Zeitpunkt das Messer in der Tasche gehabt habe. Er sei eben voller Alkohol und Adrenalin gewesen. Habe Sony nicht töten wollen. Zum Ende des Berichts schreibt der Kommissar: «Dem Beschuldigten [waren] hinsichtlich des Opfers keine Emotionen anzumerken.»

Der 21-jährige Mittäter wird schon am 11. März gefasst. Am 23. Januar 2018 tritt er, gemeinsam mit Jonas G., vor Gericht.

 

Schillernder TV-Advokat

Für die Verhandlung hat Sonys Familie Ingo Lenssen engagiert, schillernder TV-Advokat aus Ludwigshafen mit beachtlichem Zwirbelschnauzer. Bekannt aus Serien wie «Lenssen & Partner» oder «Richter Alexander Hold». Er vertritt die Mutter, den Vater sowie Sonys Freundin als Nebenkläger. Die Familie hat ihn ausgewählt, weil Sony als Bub ein grosser Fan des wunderlichen Anwalts gewesen sei. «Wir wollen nichts als Gerechtigkeit», sagt die Familie. Das bedeutet: die Höchststrafe von zehn Jahren für den Täter. Das fordert Lenssen auch in seinem Plädoyer vor Gericht.

«Grundlos zugestochen»: Anwalt Ingo Lenssen vertritt die Familie S.

Die Familie hat zudem eine Online-Petition lanciert, die sich ans Landgericht Konstanz richtet. Titel: «Gerechtigkeit für Sony S.: Härtere Strafen für seinen Mörder und die Mittäter». Bislang wurde die Petition 5’100-mal unterzeichnet.

Vater S. präzisiert: «Wir wissen, dass Sony damit nicht wieder zurückkommt. Doch wir tun das für andere Eltern. Damit sie nicht das erleiden, was wir nun erleiden müssen.»

Am Mittwoch, dem 13. März 2017, fand Sonys Beerdigung auf dem Schaffhauser Waldfriedhof statt. Über 3’000 Leute seien gekommen, erzählt die Familie S. am langen Esstisch, aus halb Europa, nur wegen Sony. Und noch immer würden jede Woche zehn bis fünfzehn Bekannte bei ihnen vorbeischauen. Das helfe ihnen sehr.

Zum Beispiel Sonys Lehrmeister, der sagte, so einen tollen Buben finde ich nie mehr. Oder die junge Frau, die kürzlich vorbeikam. Sie wurde an der Berufsschule gemobbt, Sony setzte sich jedoch für sie ein, obschon er sie nicht kannte.

Und dann sieht man wieder die dunkelbraunen Augen, wie sie auf den langen Tisch hinunterstarren.

Vater S. sagt: «Mein Sohn war wie meine Augen, mit denen ich die Welt gesehen habe.»

Wenn das Urteil morgen Freitag verkündet wird, sitzt die ganze Familie im Gerichtssaal. Auge in Auge mit dem Täter.

* Name geändert