Der Schaffhauser Komponist Beat Furrer erhält den «Nobelpreis der Musik». Zurzeit habe er sich in die Berge zurückgezogen, hört man. Wir haben ihn aufgespürt.
Der Zugang zu seinem Werk sei nicht einfach, sagen sogar Musiksachverständige. Und die Werke von Beat Furrer werden hierzulande selten aufgeführt – dabei ist Beat Furrer der wichtigste Schweizer Komponist der Gegenwart.
Vor zwei Wochen wurde bekannt gegeben, dass der Schaffhauser und Wahlösterreicher für sein Lebenswerk mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis geehrt wird. Er gilt als «Nobelpreis der Musik» und ist mit 250’000 Euro dotiert. Ein grosser Zufall wollte es, dass kurz darauf eines seiner Werke in Neuhausen zu hören war: Die Camerata Variabile unter der Leitung von Helena Winkelman spielte im Schloss Charlottenfels Furrers «Spur» für Piano und Streichquartett.
«Spur» ist fast 20 Jahre alt, dauert 13 Minuten und ist nicht nur für die Musikerinnen eine Herausforderung, sondern auch für die Zuhörer. Das Klavier, das zu Beginn im Vordergrund steht, spielt kurze Elemente, an deren Wiederholung man sich festhalten kann. Die Streicher nehmen diese Elemente manchmal auf, setzen aber auch scharfe Kontrapunkte. Klang entsteht auf alle erdenklichen Arten, mit und ohne Geigenbogen, mit den Händen auf den Tasten oder direkt an den Saiten des Flügels. Dazu kommt, dass nicht nur die Taktart ständig, sondern auch das Tempo mehrmals wechselt, zweimal kommt «Spur» fast zum Stillstand, und fortlaufend überrascht es, sei es mit urplötzlichen Pausen oder mit atemlosen Passagen, bei denen das Wort «rasend» über der Partitur notiert ist. Die angestrengte Konzentration in den Gesichtern der Musikerinnen und Musiker hat durchaus Anteil am Gesamterlebnis.
Im Gesäuse
Beat Furrer habe «sich in die Berge zurückgezogen, um an seiner Oper zu arbeiten», richtet sein Assistent aus, aber man könne mit ihm telefonieren. Irgendwo in der Steiermark, in einem schroffen Tal mit dem zu Furrer passenden Namen Gesäuse, sitzt er in einem alten Forsthaus und nimmt den Skype-Anruf entgegen. Der schlanke Mann mit dem schwarzen Pullover und dem rotkrausen Chaos auf dem Kopf spricht noch immer astreines Schaffhauserdeutsch, obwohl er seit über drei Jahrzehnten in Österreich lebt. Er spricht ruhig, überlegt und geduldig über seine Arbeit. Darauf angesprochen, dass er mit 63 Jahren einen Preis für sein Lebenswerk (es ist nicht einmal der erste) verliehen bekommt, lacht er. «Das klingt so final, ich hoffe noch viele Pläne realisieren zu können», man lebe ja immer in den Projekten, die noch bevorstünden.
Seit einem Jahr arbeitet er ausschliesslich an der Oper «Violetter Schnee», die im Januar 2019 an der Berliner Lindenoper uraufgeführt werden soll. Derzeit ist er mit der Reinschrift für das Orchester beschäftigt, 360 Partiturseiten. Für seine Arbeit brauche er «die Ruhe und Stille, die ich hier im Nationalpark Gesäuse in der Steiermark finde, sie ermöglicht mir eine grosse Konzentration für meine Arbeit. Das Verhältnis zur Natur gibt mir ein gewisses Gleichgewicht», sagt Furrer, und die «Konfrontation mit einer anderen ‹geologischen› Zeit», die schroffen Kalkwände im Gesäuse reichen bis in die Kreidezeit zurück, sei etwas Wunderbares.
Als Ausgangspunkt für die Texte diente dem ausserordentlich belesenen Komponisten bislang eine ellenlange Liste von Autorinnen und Autoren, manchmal stammten die Quellen für ein Werk aus drei verschiedenen Jahrtausenden. Auch die Vorlage für die gerade entstehende Oper «Violetter Schnee» ist speziell: Händl Klaus hat nach einer Idee von Vladimir Sorokin – die wiederum durch Andrej Tarkovskis Film «Solaris» inspiriert ist – ein Libretto geschrieben. Bei der langen, eindrücklichen Kameraeinstellung auf den fremden, denkenden Planeten hat der Komponist «die Möglichkeit von Musik gespürt».
Nicht die Handlung, sondern ein Thema will Furrer ausloten: «Etwas Vertrautes wird fremd: nach einer Katastrophe und einer darauffolgenden langen Dunkelheit geht die Sonne zwar wieder auf, ist jedoch nicht mehr dieselbe», so fremd, dass «die Protagonisten die Fähigkeit zu kommunizieren verlieren». Sprache und die menschliche Stimme spielen in Furrers Werk eine zentrale Rolle. Untersuchte er in früheren Werken den Weg vom Sprechen zum Singen, lotet er in «Violetter Schnee» – nun vom gesungenen Text ausgehend – den Übergangsbereich zum Sprechen beziehungsweise zum «parlare cantando» aus: das singende Sprechen, das sprechende Singen.
Früh entdeckt
Nach der Schule und erstem Klavierunterricht in Schaffhausen zog der zwanzigjährige Furrer, vom Klang an sich fasziniert, nach Wien, um Dirigieren und Komposition zu studieren. Ihn begeisterte die zeitgenössische Klassik, auch Neue Musik genannt, und dafür war Schaffhausen zu klein. Furrer wurde als Komponist schon früh von bedeutenden Ensembles entdeckt und gründete mit dreissig das heute weltberühmte Klangforum Wien.
Die Liste der seither an Beat Furrer verliehenen Auszeichnungen ist lang, sie beginnt 1992 mit dem Förderpreis der Ernst-von-Siemens-Stiftung und führt über den Musikpreis der Stadt Duisburg, den Georg-Fischer-Preis in der Heimat, den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig und den Grossen Österreichischen Staatspreis für Musik (die Liste ist nicht abschliessend) wieder zur Ernst-von-Siemens-Stiftung, dieses Mal zum Hauptpreis. «Beat Furrer gestaltet seit vielen Jahren die musikalische Gegenwart auf die eindrücklichste Art und Weise», schreibt das Preiskuratorium, «sein Einfluss auf jüngere Generationen von Komponisten und Interpreten ist enorm.»
Enorm ist auch Beat Furrers Produktivität. Die aktuelle Oper ist seine neunte, dazu kommen Ensemble- und Orchesterstücke, Kammermusik und Soli, über hundert an der Zahl. Gleichzeitig unterrichtet und dirigiert Furrer, auch wenn dies zuletzt zu Gunsten des Komponierens in den Hintergrund gerückt ist.
Warum eigentlich macht er Neue Musik? Furrer antwortet mit Leidenschaft: «Wenn Kunst nicht mehr zum Heute geöffnet ist, nicht mehr eine ‹zeitgenössische› ist, wenn wir nicht mehr versuchen zu verstehen oder zu beschreiben, was heute passiert, wäre Kunst lediglich museal, wäre das Ganze zum Sterben verurteilt.» Darum muss in diesem Forsthaus in der Steiermark, umgeben von uraltem Gestein, immer wieder etwas Neuartiges entstehen. Provokativ fragt Furrer: «Bei der 50 Jahre alten Carmen-Inszenierung in der Staatsoper Wien, wo findet da die Kunst statt?»
Furrer spielen: ein Wagnis
Bei der Aufführung von «Spur» in Neuhausen sagt Helena Winkelman, die Beat Furrer als Gastprofessor in Basel kennengelernt hat: «Das ist das Schwierigste, das wir je gespielt haben.»
Darauf angesprochen, muss Furrer schmunzeln: «Ja, das kann ich mir vorstellen.» Um die metrischen Wechsel in diesem Tempo und im Zusammenspiel zu lernen, brauche es viel Zeit. Vor zwanzig Jahren sah er sich gezwungen, die geplante Uraufführung von «Spur» zu verschieben: Das Ensemble habe mit der Vorbereitung nicht früh genug angefangen und sei schlicht «noch nicht so weit» gewesen. Das tue ihm heute etwas leid, sagt Furrer, und drückt seinen grossen Respekt vor Winkelmann und der Camerata Variabile aus, die sich an «Spur» gewagt haben.
Ein Wagnis, das sich auszahlt. Als in Neuhausen die letzten Noten verklingen, ist der Applaus geradezu frenetisch, lauter als beim Klavierquintett von Schumann und länger als zuvor bei den Kanons von Bach. Der Zugang zu Furrers Musik ist offenbar doch nicht so schwierig: Ein Schaffhauser Publikum, das wenig Neue Musik zu hören bekommt, zeigt keinerlei Spur von Verständnislosigkeit oder Frustration, im Gegenteil.
Unter einer Bedingung also ist der Zugang zu Neuer Musik überhaupt kein Problem: Man braucht, damit sind Helena Winkelman und Beat Furrer einverstanden, das Konzerterlebnis.