Kein Fall für zwei

28. Januar 2018, Kevin Brühlmann

Umstrittenes Wahlprozedere, Verfahren wegen Amtsmissbrauchs und dubioser Kronzeugen-Deal im grös­sten Thurgauer Justizfall: Wer sind die neuen Schaffhauser Staatsanwälte Andreas Zuber und Linda Sulzer?

Es ist ein Montag, den Andreas Zuber und Linda Sulzer wohl nie mehr vergessen werden.

Montagmorgen, der 22. Januar 2018. Regen peitscht an die Fenster des Schaffhauser Kantonsratssaals. Soeben hat das Parlament Linda Sulzer zur neuen Staatsanwältin gewählt. Sie wechselt aus dem Thurgau über den Rhein. Damit folgt sie ihrem langjährigen Vorgesetzten Andreas Zuber. Er wurde schon im Dezember 2017 gewählt. Ab April wird Zuber neuer Leiter der Allgemeinen Abteilung der Schaffhauser Staatsanwaltschaft – mit 20 Angestellten die grösste Sektion.

«Linda Sulzer bringt hervorragende Qualifikationen mit», sagt Peter Scheck (SVP), Präsident der Justizkommission. Das Gremium schlägt dem Kantonsrat jeweils eine Person vor, wenn es Vakanzen in der Justiz gibt. Diese «Wahlvorschläge» gelten als praktisch gewählt. Auch Andreas Zuber profitierte davon.

«Hervorragende Qualifikationen»: Justizdirektor Ernst Landolt (rechts) bespricht sich mit Peter Scheck, dem Präsidenten der Justizkommission.

Montagmittag. Nieselregen vor dem Kreuzlinger Rathaus. Eine grosse Traube von Journalisten wabert durchs Gebäude. Das Bezirksgericht verkündet das Urteil im sogenannten Fall Kümmertshausen. Es geht um die Tötung eines 53-jährigen IV-Rentners im November 2010. Drumherum gerät eine Bande von Menschen- und Drogenhändlern in den Fokus. Insgesamt gibt es 14 Angeklagte. Es ist der grösste Fall der Thurgauer Geschichte. 42 Prozesstage, eine siebenjährige Odyssee durch 500 Bundesordner.

Die Quintessenz des Urteils: eine Kehrtwende. Der Mann, der von der Staatsanwaltschaft jahrelang als Kronzeuge privilegiert behandelt wurde und drei Männer schwer belastet hat, wird als Haupttäter verurteilt. Wegen eventualvorsätzlicher Tötung durch Unterlassung. Die anderen Männer werden freigesprochen. Nun befasst sich das Gericht mit dem Strafmass.

Langjährige Anwälte bezeichnen das Urteil als «Ohrfeige» für die Staatsanwaltschaft. Insbesondere für Oberstaatsanwalt Andreas Zuber, 44-jährig, und seine Kollegin Linda Sulzer, 37. Es ist die letzte von einer respektablen Reihe von juristischen Backpfeifen für das Duo.

Die heftigste erfolgt im April 2015. Das Bundesgericht setzt die beiden Staatsanwälte vom Fall ab, denn sie haben «zahlreiche und teilweise krasse Verfahrensfehler begangen». «In der Summierung wiegt dies schwer», schliesst das Bundesgericht. Zuber und Sulzer hatten einen «unbequemen» Pflichtverteidiger ausgewechselt. Und sie führten Einvernahmen ohne den Verteidiger durch; die entsprechenden Protokolle behielten sie für sich.

Wie kam es so weit? Andreas Zuber und Linda Sulzer liessen sich auf einen Deal ein, wie man ihn aus amerikanischen Krimiserien kennt: Yilmaz B. war im Haus des IV-Rentners, zusammen mit anderen Bandenmitgliedern. Der IV-Rentner erstickte an seiner Kapuze, die man ihm als Knebel in den Mund gesteckt hatte (warum die Männer da waren, ist nach wie vor ungeklärt). Aber anstatt B. als möglichen Haupttäter anzuklagen, ernannten ihn die Staatsanwälte zum Kronzeugen.

Vom Kronzeugen zum Täter

Über zehn Stunden unterhielten sie sich mit ihm im Geheimen, ohne Protokoll, ohne Videodokumentation. Publik wurde dies erst mit der Überprüfung des Honorar-Schecks, den B.s Anwalt ausgestellt hatte. Jedenfalls belastete Yilmaz B. kurz darauf die anderen schwer. Und sein Anschwärzen wurde mit einem separaten Verfahren belohnt, in dem er bloss als Tatgehilfe angeklagt wurde. Er sollte fünf Jahre Gefängnis bekommen, während den anderen bis zu 15 Jahren drohten.

Neuer Leiter der Allgemeinen Abteilung der Staatsanwaltschaft: Andreas Zuber. (Screenshot SRF)

Obschon Zuber und Sulzer den Fall abgeben mussten, fusste auch die neuste Anklage im Wesentlichen auf ihrer Arbeit. Mit dem Urteil vom 22. Januar hat sich die Anklage aber ins Gegenteil verwandelt. Aus dem Kronzeugen wurde der Haupttäter. Noch im Gerichtssaal wird Yilmaz B. in Handschellen abgeführt.

«Das Urteil ist natürlich kein Zeugnis von hervorragender Arbeit. Andreas Zuber und Linda Sulzer haben nicht ergebnisoffen gearbeitet», sagt Bruno Bauer. Der erfahrene St. Galler Anwalt vertritt im Fall Kümmertshausen einen der vormals Hauptbeschuldigten, der nun freigesprochen wurde. «Sie haben sich in eine Vorstellung verbissen – und sich verlaufen, indem sie sich mit einer dubiosen Person ins Boot gesetzt haben.»

Gegen Zuber und Sulzer wurde auch eine Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs eingereicht. Das werde zurzeit «extern untersucht», so die Thurgauer Staatsanwaltschaft. Wie die «az» erfährt, ist die jetzige Klage wegen Amtsmissbrauchs nicht die erste. Bereits 2014 ging eine Anzeige ein, allerdings lief diese ins Leere.

Im Paartanz über den Rhein

Nun springen Linda Sulzer und Andreas Zuber im Paartanz zur Schaffhauser Staatsanwaltschaft. Das freut den Thurgauer Kantonsrat Urs Martin: «Für den Thurgau ist der Wechsel der beiden Staatsanwälte ein Glücksfall, ein Segen.» Martin, ein SVP-Mann von altem Schlag, hat die Staatsanwälte seit Längerem auf dem Kieker. In den letzten Jahren hat er eine Handvoll Vorstösse zum Thema eingereicht (der letzte hiess: «Staatsanwaltschaft ausser Rand und Band»).

Diverse Thurgauer und St. Galler Anwälte relativieren: Zuber und Sulzer, so der Tenor, hätten sicher auch gute Arbeit geleistet. Nur sei ihnen der Fall Kümmertshausen vermutlich über den Kopf gewachsen.

Ist Zubers und Sulzers Abgang Zufall oder Flucht? Und warum entschied sich die Justizkommission für die beiden, die immer noch eine Amtsmissbrauch-Anzeige am Hals haben?

Der Präsident der Justizkommission, Peter Scheck, sieht darin kein Problem. Ebensowenig Kommissionskollege Lorenz Laich von der FDP: «Aus taktischen Gründen wird es heute immer mehr Usus, Staatsanwälte mit Klagen einzudecken. Das Verfahren entbehrt jeglicher Grundlage.»

«Absoluter Blödsinn», entgegnet der St. Galler Anwalt Bruno Bauer. «Das ist eine absolute Ausnahme. Ultima ratio – die Handbremse, wenn es nicht mehr anders geht.» Auch Nihat Tektas, FDP-Kantonsrat und Jurist, haut in dieselbe Kerbe: «Das ist überhaupt nicht alltäglich.»

Umstrittene Wahl

Auch die Wahl von Andreas Zuber wurde von Kritik überschattet. In einem vereinfachten Verfahren schlugen der Erste Staatsanwalt Peter Sticher, Justizdirektor Ernst Landolt und dessen Departementssekretär Daniel Sattler der Kommission nur einen Kandidaten vor: Andreas Zuber. Die Justizkommission fühlte sich übergangen; der Kantonsrat ebenso. Sticher und Landolt würden ihren bevorzugten Mann eigenmächtig installieren, so der Vorwurf.

Besonders auffällig: Insgesamt hatten sich fünf Personen für die Stelle als Staatsanwalt beworben. Am 15. November 2017 wurde Zuber zum Gespräch eingeladen. Noch am selben Tag verschickte man den Kommissionsbericht, worin Zuber zur Wahl vorgeschlagen wurde. Es scheint also, als sei die Auswahl schon im vornherein festgelegt gewesen.

Der Erste Staatsanwalt Peter Sticher kann dieser Kritik nichts abgewinnen: «Die Bewerbung von Andreas Zuber stand dabei aufgrund seiner fachlichen Qualifikationen und seiner Führungserfahrung klar an erster Stelle. Seine Arbeitszeugnisse und Referenzen waren hervorragend.»

 

 

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Suizidversuch bei Ausschaffung: Andreas Zuber als externer Ermittler

Andreas Zuber ist nicht unbekannt in Schaffhausen. Im September 2016 wird er als externer Untersucher eingesetzt. Es geht um eine damals 21-jährige Asylbewerberin aus Syrien, die sich bei ihrer Ausschaffung umzubringen versuchte. Eine Polizistin und ein Polizist werden daraufhin wegen Unterlassen der Nothilfe angeklagt. Im Juni 2017 wird das Verfahren eingestellt; es kommt nicht zu einer Anklage.

Im abschliessenden Bericht ist festgehalten: Die psychisch kranke syrische Frau ist in der Klinik Breitenau stationiert. Dort soll sie am 5. September 2016 von der Polizei abgeholt und zum Migrationsamt eskortiert werden, in Ausschaffungshaft. Bevor der Polizist und die Polizistin um 7.45 Uhr eintreffen, nimmt sie «eine unbestimmte Menge an Medikamenten zu sich». Die stellvertretende Stationsleiterin warnt die Polizei noch, die Frau sei «nicht hafterstehungsfähig und suizidgefährdet». Um 8 Uhr würde zudem ein Arzt eintreffen – man solle das doch abwarten. Die Polizistin und der Polizist verneinen und fahren die Syrerin mit dem Gefangenenwagen zunächst zur Schaffhauser Polizei, wo sie in eine Wartezelle gesperrt wird.

Dort wickelt sich die 21-Jährige ihren Pullover «mehrfach um den Hals und [zieht] dann zu». Sie fällt in eine «tiefe Bewusstlosigkeit». Das Polizeiduo glaubt, «dass sie wieder so eine Show abzieht» (in der Breitenau hatte sie einen Ohnmachtsanfall vorgetäuscht). Also trägt der Polizist die Frau wieder in den Wagen. Er meint, «eine Körperspannung» zu fühlen. Als sie beim Migrationsamt ankommen, ist die Syrerin noch immer bewusstlos. Jetzt scheint die Situation plötzlich ernster: Die Ambulanz wird gerufen. Das Gesicht der Frau ist verfärbt wegen Sauerstoffmangels – die Polizei hält das für Akne. Aus einem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich geht hervor, dass die Körperspannung wohl auf eine «steife Muskelspannung» – eventuell einen «anhaltenden epileptischen Anfall» – zurückgeführt werden könne. Und: Die Syrerin habe sich «in Lebensgefahr» befunden.

Hier setzt Zubers Einstellen des Verfahrens an: Unterlassen der Nothilfe ist nur bei «unmittelbarer Lebensgefahr» strafbar. Zudem hätten die Polizistin und der Polizist als Laien nicht wissen können, dass die Syrerin tatsächlich in Lebensgefahr schwebe. Und das zweite Argument: Bei einem Suizid, der in urteilsfähigem Zustand erfolgt, entfällt die Hilfspflicht. Die Medikamenten-Konzentration im Blut könne eine Urteilsunfähigkeit nicht rechtfertigen, so der Bericht.

Nicht erwähnt wird hingegen die psychische Erkrankung der jungen Syrerin – ebensowenig wie die Warnung der stellvertretenden Stationsleiterin an das Polizeiduo, die damals 21-Jährige sei «nicht hafterstehungsfähig und suizidgefährdet». (kb.)