Vom gekritzelten Liebesbrief zum schlüpfrigen Selfie – im Gespräch mit zwei Schülerinnen finden
wir heraus: Für die meisten Schaffhauser Teenies ist es üblich, Nacktfotos von sich via Smartphone zu verschicken. «Das ist kein Riesending», erzählen uns die Mädchen, «alle machen es.»
An einem kalten Mittwochnachmittag im Dezember treffe ich mich mit den Jugendlichen Anna und Kristina (beide Namen geändert) für ein Interview. Um was es denn gehe, wollte Kristina im Vorfeld wissen. Um Jugendliche und ihr Smartphone, den Mythos Nacktfotos und so, antwortete ich ihr.
Vor der Fassbeiz treffe ich auf die zwei Mädchen. Beide sind top gestylt, gertenschlank. Kristina ist 14, Anna 15 Jahre alt. Gemeinsam besuchen sie die dritte Oberstufenklasse in einem Schaffhauser Schulhaus. Wir suchen einen ruhigen Platz, bestellen zwei Colas und ein Rivella. Mit ihren pink lackierten Fingernägeln trommelt Anna nervös gegen ihr Glas.
az Heute läuft vieles im Leben über das Smartphone ab. Instagram, Whatsapp und Snapchat sind hoch im Kurs bei Jugendlichen. Habt ihr auch einen Gruppenchat für eure Klasse?
Anna Ja, wir haben zwei Klassenchats. Einen mit Lehrer und einen ohne. In dem ohne Lehrer schickt man sich Lösungen oder fragt einen Tag vor dem Test nach den Lernzielen, damit der Lehrer nicht merkt, wie spät man dran ist. Im Chat mit dem Lehrer schickt uns der Lehrer Informationen.
Kristina Aus dem Chat ohne Lehrer bin ich ausgetreten. Er hat mich zu fest genervt, täglich wurde irgendwelcher Kack aus dem Internet rumgeschickt. Wenn ich mal kurz nicht am Handy war, hatte ich danach 400 neue Nachrichten drauf.
Kommt es im Klassenchat zu Mobbing?
Kristina Nicht gerade Mobbing, aber jemand wurde mal nicht so nett dargestellt. Es hat sich auch direkt gelöst, weil jemand darauf aufmerksam gemacht hat, dass man nicht so über den reden sollte.
Anna Freunde necken sich mal gegenseitig und schicken Fotos rein, auf denen die Kollegen lustig aussehen, aber sie sind Freunde, von dem her ist das okay. Klatsch und Tratsch wird eher in echt erzählt und nicht via Handy. Aber der Tratsch interessiert mich eh nicht gross.
Stimmt es, dass viele Jugendliche Nacktfotos verschicken?
Beide Ja.
Anna Ich kenne sehr viele, die Nacktfotos verschicken.
Kristina Ich auch. Viele reden offen über dieses Thema und finden es überhaupt nicht schlimm. Man kann offen damit umgehen.
Wie viele Schüler in eurer Klasse verschicken Nacktfotos?
Anna Die meisten. Ich weiss, dass eine Schülerin bestimmt keine Nacktfotos verschickt. Von den anderen habe ich gehört, dass sie es getan haben.
Kristina Auch alle Schüler der Parallelklasse verschicken Nacktfotos.
Gibt es vielleicht Druck, «dabei sein» zu müssen?
Anna Ja, vielleicht ein bisschen. Mädchen, die reifer wirken wollen, machen vielleicht mit, obwohl sie solche Fotos gar nicht verschicken wollen.
Unter Nacktfotos verstehen Anna und Kristina Fotos, auf denen Geschlechtsteile komplett zu sehen sind. Bikini- und Unterwäschefotos gehören nicht dazu, gelten also als «normale» Fotos.
Es sei nichts Schlimmes, wenn man erzähle, dass man solche Fotos verschicke, sagen die beiden Teenies. Im Gespräch unter Frauen würden diese Details eben angesprochen: Wer schon Nacktfotos geschickt habe, wer nicht. Es sei zwar nicht so, dass man damit angebe, es sei schon eine private Sache. Aber man gehe offener damit um als früher.
Vor ein paar Jahren gab es einen Fall, ein Video, in dem ein Schaffhauser Mädchen nackt masturbierte. Via Smartphones ging das Video viral. Selbst nationale Medien berichteten darüber. Das sei eine Riesensache gewesen, erinnern sich Anna und Kristina, aber heute sei das Nacktfoto-Versenden «nicht mehr so ein Ding». Das heisst wohl: praktisch alltäglich.
Warum und wem schickt ihr Nackfotos?
Anna Ich glaube, dass man in unserem Alter herausfinden will, wie das andere Geschlecht nackt aussieht. Auch will man wissen, wieso alles Sexuelle so interessant ist.
Kristina Wenn man einen festen Freund hat, dann schickt man ihm solche Fotos. Ansonsten einfach dem Typen, mit dem man gerade schreibt und den man heiss findet.
Hattet ihr schon Probleme, weil ihr Nacktfotos verschickt habt?
Kristina Mich haben auch schon Leute gefragt, ob ich das mache. Ich habe dann gedacht, für die wäre das nicht so ein Riesending, und habe ihnen die Fotos dann anvertraut. Ich dachte halt, heutzutage ist das eh nicht mehr so schlimm. Dann gab es aber ein Riesendrama draus. Es war halt ein Junge aus Schaffhausen, und als ich mal im McDonalds war, hat er mich gesehen und mich ausgelacht. «Lueg mal, das isch die», sagte er zu seinen Kollegen. Mich persönlich hat es nicht gejuckt, da ich es erbärmlich gefunden habe, dass er es rumposaunt hat.
Ich habe es ihm dann auch gesagt, wenn er das für sein Leben braucht, um stärker zu werden, dann kann er das machen, mir ist es eigentlich egal. Aber mir hat jetzt noch nie jemand die Freundschaft gekündigt, nur weil ich Nacktfotos verschicke.
Bestimmt wisst ihr, dass ihr euch als Minderjährige mit dem Versenden von Nacktfotos strafbar machen könnt. Was meint ihr dazu?
Kristina Ich finde es daneben, dass man so ein Gesetz macht. Bei Liebe kann man keine Regeln machen, das muss jeder selber wissen. Ich finde das gestört, es sollte niemanden jucken. Es ist lieb gemeint, aber mich stört das sehr. Ich glaube, ohne diese Regeln würden weniger Menschen Nacktfotos verschicken. Das ist wie beim Kiffen.
Anna Ich glaube, diese Gesetze sollten uns eher schützen. Damit zum Beispiel 13-Jährige nicht saufen. Es geht glaub mehr darum, dass sich die Jungen die Zukunft nicht kaputt machen. Aber Nacktfotos sind ja keine Riesensache.
Die einzige Prävention, mit denen die zwei Oberstufenschülerinnen konfrontiert worden sind, war ein «langweiliger, alter Typ, der von Swisscom vorbeikam». Er habe stundenlang über mögliche Gefahren des Verbreitens von sexuellen Fotos erzählt, jedoch blieb kaum etwas bei den Mädchen hängen. Die «Alten» würden vom Schlimmstmöglichen ausgehen und die heutige Generation gar nicht verstehen, erzählen Kristina und Anna.
Nach dem Gespräch streifen sich die beiden ihre Lederjacken und wolligen Schals im Partnerlook über. Sie verabschieden sich eilig, denn sie müssen den Bus zur Kollegin erwischen. Eine Netflix-Pyjama-Party ist angesagt.
Die Flurlingerin Miriam Barner arbeitet als freie Autorin. Zuletzt schrieb sie für «Tilllate», das Jugendformat von «20 Minuten».