Einem Waldgeist auf der Spur

3. Januar 2018, Mattias Greuter
Nimm einen Sack und eine Lampe mit, wenn du den Hülpetrütsch fangen willst, sagen die Einheimischen.
Nimm einen Sack und eine Lampe mit, wenn du den Hülpetrütsch fangen willst, sagen die Einheimischen.

Tief im Wald bei Ramsen soll der sagenumwobene Hülpetrütsch zu finden sein. Die alteingesessenen Ramser wollen ihn schon gesehen haben und wissen, wo er sein Unwesen treibt. Eine Schnitzeljagd.

Es existieren keine Fotos, keine Knochen und nicht einmal Fussabdrücke, aber die Einheimischen erzählen einander seit Generationen, dass irgendwo im Ramser Wald eine mystische Kreatur lebt: der ­Hülpetrütsch. Ein schauerliches Misch­wesen soll er sein, mit Bockgeweih, den Füs­sen von zwei verschiedenen Tieren, langen Reisszähnen und je nach Version auch mal mit Flügeln. Viele Ur-Ramser wollen dieses Fabelwesen, diesen Waldgeist schon mit eigenen Augen gesehen haben, warnen die Kinder vor dem Hülpetrütsch und glauben zu wissen, wo und wie man ihn aufspürt.

Sagen über mythische Tiere gibt es auf der ganzen Welt, auch in der Region Schaffhausen fehlen sie nicht. Die Sammlung «Sagen und Legenden aus dem Kanton Schaffhausen» (siehe auch Seite 14) berichtet etwa von der dreifüs­sigen Hobelgeiss, vom wilden Löristier und vom Geisterhund Wali oder vom sechsfüssigen Hegitier mit feurigen Katzen­augen.

Doch der Hülpetrütsch fehlt in der Schaffhauser Legendensammlung. Das weckt Recherche- und Jagdinstinkte. Ich muss die sagenhafte Kreatur entweder finden und fangen oder anderenfalls beweisen, dass sie nicht existiert.

Schnell wird klar, dass die Recherche vom Schreibtisch aus nicht weit führt: Im Internet findet man mit dem Suchbegriff «Hülpetrütsch» nur die Webseite der jungen Ramser Brauerei Gässli-Bräu. Ihr Chef Daniel Sandmeier ist es, von dem ich die Geschichte erstmals gehört habe. Er hat sein Maisbier nach dem Fabelwesen benannt und ist überzeugt, dass es im Wald hinter der Schüppeleiche, dem ältesten Baum des Kantons, zu finden sei. Oder hat der Braumeister das Fabelwesen etwa zu Werbezwecken schamlos selbst erfunden?

Nein, diese Verschwörungstheorie ist mit nur einem Anruf widerlegt: Auch der Ramser «az»-Kolumnist Markus Eichenberger weiss vom Hülpetrütsch im Schüppelwald. Auf also, nach Ramsen. Den Fotografen nehme ich mit – schliesslich brauche ich ein Beweisfoto des gefangenen Hülpetrütsch, wenn ich als erster und einziger erfolgreicher Kryptozoologe in die Geschichte eingehen will. Diesen Anfängern, die in furchtbar langweiligen amerikanischen TV-Sendungen nach Bigfoot und Nessie suchen, werde ich’s zeigen.

Die Schnitzeljagd beginnt
Wir besuchen Daniel Sandmeier in seiner gerade erst eröffneten Braubar im Ramser Ortsteil Petersburg. Vom Hülpe­trütsch erzähle man sich in Ramsen schon lange, sagt er. Darüber hinaus kann der Braumeister – ein Zuzüger – allerdings bei der Suche nicht weiterhelfen. Aber er hat eine Spur: «Gönd zum Didi, de weiss meh!», empfiehlt er. Didi sei Mitglied in einem Töffclub, der Hülpetrütsch heisse und ein entsprechendes Emblem trage. Er, der Braumeister, habe die Töfffahrer besucht, einen Harass auf den Tisch gestellt und gefragt, ob er das Emblem für die Etikette seines neuen Maisbiers übernehmen dürfe. Er durfte, weil das Bier den Töfffahrern schmeckte. Probieren können wir das Hülpetrütsch leider nicht – es ist gerade ausverkauft.

Einige hundert Meter in Richtung Dorfkern finden wir Didi, er schraubt gerade an einem Wohnwagen. Seine Erscheinung lässt dennoch keinen Zweifel an seinem Töfffahrerherz, und neben seiner Garage prangt das Hülpetrütsch-­Emblem. Leider weiss Didi auch nicht viel über das Fabeltier. Nur dass es «sone alti Saag» sei, der Töffclub habe schon vor seiner Zeit Hülpetrütsch geheissen. «Müend emol de Pirmin froge.»

Didi ruft Pirmin an und findet heraus, dass dieser gerade im Migros-Restaurant bei Moskau sitze. Merci, schönes Wochenende, tschau Didi.

Im Migros-Restaurant bestätigt Pirmin: Ja, er und seine Töfffreunde hätten den Hülpetrütsch auf ihr Gilet sticken lassen. Nach einer alten Sage treibe er im Wald sein Unwesen, genauer beim Zwölfistein in Oberwald, gleich östlich von Petersburg. Wie man ihn denn zu fassen kriege, wollen wir wissen. «Ich ha ghöört, du bruuchsch en Sack und e Lampe», sagt Pirmin. Und ausserdem möglichst viele Treiber, um das Vieh aus seinem Versteck zu scheuchen. Ob er ihn je gesehen hat? «Nei, bi immer nu Triiber gsi.»

Auf der Pirsch
Allmählich wird die Sache etwas konkreter. Aber es gibt widersprüchliche Informationen dazu, wo das Habitat des Hülpetrütsch zu finden sei: Entweder im Schüppelwald hinter der grossen Eiche oder in Oberwald beim Zwölfistei.

Letzteres ist immerhin in der Nähe, und mit Sack und Lampe bin ich ausgerüstet. Die inzwischen drei Stationen dauernde Schnitzeljagd könnte in Kürze siegreich zu Ende sein – ab in den Wald.

Der Zwölfistei ist ein grosser Findling, der in einer Kurve am Wegrand liegt. Dicht mit Moos bewachsen, bietet er im Nebel des frühen Morgens einen durchaus sagenträchtigen Anblick – wenn ich der Hülpetrütsch wäre, würde ich genau hier mein Unwesen treiben wollen. Wie Pirmin geraten hat, leuchte ich mit einer Öllampe in den weit geöffneten Sack und warte. Als Treiber muss der Fotograf herhalten; das laute Klicken seiner Kamera im stillen Wald und vor allem sein Gelächter ob des merkwürdigen Sujets müssten wohl reichen, um jedes Getier, mystisch oder profan, aus dem Dickicht aufzuscheuchen.

Doch der Hülpetrütsch kommt nicht. Nur einmal hören wir ein Rascheln im knöcheltiefen Herbstlaub, doch es entfernt sich eher vom Sack, als näherzukommen.

Am Stammtisch der Experten
Zwischenbilanz: Im Wald habe ich deutlich weniger über den Hülpetrütsch gelernt als beim Herumfragen im Dorf. Als Journalist liegt mir die Recherche halt besser als die Jagd, und bei schwierigen Herausforderungen soll man bekanntlich auf seine Kernkompetenzen setzen.

Also zurück ins Dorf. Eine Spur gibt es noch: Markus Eichenberger hat uns eingeladen, seinen Stammtisch zu besuchen, dort würden sich die Alteingesessenen treffen. Eigentlich logisch, dass die Ur-Ramser mehr über den Hülpetrütsch wissen als zugezogene Bierbrauer und Töfffahrer. Ausserdem ist es kalt im Wald, und ein Kaffee in einer warmen Wirtsstube ist auch dann eine gute Idee, wenn man gerade nicht auf der Jagd nach Fabelwesen ist.

«Mir Ur-Ramser wüssed da scho»: Die Hülpetrütsch-Fachleute treffen sich am Samstagvormittag im Hirschen.

«Mir Ur-Ramser wüssed da scho»: Die Hülpetrütsch-Fachleute treffen sich am Samstagvormittag im Hirschen.

Eichenberger hatte recht. Im Restaurant Hirschen am runden Tisch sitzen die alteingesessenen Ramser. Hier darf der Älteste der Wirtin noch «Frolein» sagen, und auch der Jüngste am Tisch ist trotz Metallica-Shirt urchig geblieben. Man trinkt zwar nur Kafi Crème und Mineral, aber die faulen Sprüche sind trotzdem von einer Qualität, die man sonst erst ab zwei Promille erwarten würde. Man erzählt sich von früher und von dem Bauern, der seine Kartoffeln aus dem Acker sprengen musste, weil sie so gross waren. Einer, der etwas früher gehen muss, sagt zum Abschied: «Liged denn schöö under euem Chrischtbomm!» Ein grossartiger Stammtisch.

Als die Runde etwas Vertrauen zu den Fremden gefasst hat, fragen wir vorsichtig nach dem Hülpetrütsch. «Jo, mir Ur-­Ramser wüssed da scho», poltert einer, als ich die Legende anspreche. «Da het mir de Papi scho verzellt», ergänzt ein anderer, und fragt: «Hesch en au scho gsee?» «Ich scho», bekräftigen mehrere. Ganz eindeutig ist das die richtige Expertenrunde, um dem Hülpetrütsch auf die Spur zu kommen. Wie er denn aussehe, wollen wir wissen. «Da verrootemer nid», sagt einer mit ernstem Gesicht. Ob es denn stimme, dass man ihn im Schüppelwald suchen müsse, mischt sich Markus Eichenberger ein, der gerade dazugestos­sen ist. «Nei, de finded er döt nid», ist man sich einig. Eichenberger könne das als Zugezogener ja gar nicht so genau wissen – schliesslich kam er erst 1977 nach Ramsen.

Die Stammtischdiskussion schweift ab, aber einer der Stammgäste schaut den Schreiberling und Kryptozoologen in spe an, mit einer Miene, die sagt: Ich verrate dir jetzt etwas, über das man sonst nur mit Ur-Ramsern spricht. «Du muesch uf Oberwald, wennt de Hülpetrütsch suechsch.» Also doch! Aber wie fängt man ihn? «Da goot nu inere Vollmondnacht. Denn treit sich de Zwölfistei um Mitternacht zwölf mol.» «Und zwor rechts ume», sagt der Älteste. Dann, und nur dann, könne man den Hülpetrütsch fangen, wenn man mit einem Jutesack und einer Lampe oberhalb des Zwölfisteins auf der Lauer liege. Der gesamte Stammtisch nickt zustimmend.

Weit verbreitet
Ich war also am richtigen Ort mit der richtigen Jagdausrüstung, aber der Zeitpunkt war falsch. Bei Nacht und Vollmond wäre mir der Hülpetrütsch fast sicher in den Sack.

Bis zur nächsten Vollmondnacht ist noch etwas Zeit. Nachdem sich die Quellen vor Ort erschöpft haben, kommt die Fachliteratur zum Zug. Der Hülpetrütsch scheint nicht nur bei Ramsen verbreitet zu sein, doch trägt er je nach Region etwas andere Namen – kein Wunder also, hat die Google-Suche fast nichts zutage gefördert. In Hessen heisst die gesuchte Kreatur «Hilbentritsch» oder «Elbendrötsch», wie alte Wörterbücher berichten, in Sachsen spricht man vom «Tulpentritsch» und in der Pfalz vom «Elbetritsch». Schon die Gebrüder Grimm beschreiben in ihrem Wörterbuch den «Trilpe(n)tritsch». Etwas verwirrend ist: All diese Bezeichnungen stehen manchmal für ein Fabelwesen, manchmal aber auch für einen dummen Menschen und nicht selten für beides. Wie das Tier aussieht, steht in keinem der alten Schinken.

Den entscheidenden Hinweis liefert der Wälzer «Deutsche Mythologie in gemeinverständlicher Darstellung» aus dem Jahr 1898. Er setzt den Hülpe­trütsch mit einem anderen, in Hessen und Norddeutschland bekannten Fabelwesen gleich, dem Dilldapp. Es soll sich um ein aus Teilen mehrerer anderer Tiere bestehendes Ungetüm handeln, nicht unähnlich einem Wolpertinger.

Die Suche nach dem Dilldapp, nun wieder von der warmen Redaktionsstube aus, fördert Erschreckendes zutage. Zitat aus einem elsässischen Wörterbuch:
«Dilldapp: Fabelwesen, Tier an dessen Dasein der Wissende nicht glaubt.» Und es kommt noch schlimmer: «Einen Dummen schickt man go Dildabbe fange», steht da, «Der Simpel wird auf die Lauer gestellt (…), damit er den aufgejagten D. fangen könne. Die Eingeweihten gehen auf die Jagd, d. h. sie entfernen sich. Nach langem Warten merkt das Opfer, daß es angeführt wurde, daß es selbst der D. ist (vgl. Heckenstößer, Elbentrütsch).»

Jetzt wird mir einiges klar. Das erklärt auch, warum mehrere Wörterbücher den Dildapp beziehungsweise den Hülpe­trütsch einerseits als Fabeltier, andererseits als dummen Menschen definieren.

Erkenne dich selbst
Auch eine fast 150 Jahre alte Quelle aus Württemberg beschreibt das «Elbenträtschenjagen»: «Die ledigen Burschen redeten einem beschränkten Menschen ein», an einer bestimmten Stelle «lasse sich zuweilen Nachts, ein sehr werthvolles Thier (…) mit kostbarem Pelz fangen». Die Eingeweihten fungieren als Treiber, sprich, sie gehen heim «und lassen den Menschen stehen, der hintendrein der Gegenstand des allgemeinen Gespöttes wurde».

Zu guter Letzt weiss auch das Schweizerische Idiotikon, der Tritsch oder Trütsch sei ein «fabelhaftes Tier, auf dessen Jagd leichtgläubige Leute nachts geschickt werden», und berichtet von ­Ilben- oder Hülpitrütschen: Es gebe einen üblichen Streich, «wobei der (einfältige) Spieler gehalten wird, an einer dem kalten Winde ausgesetzten Stelle mit verbundenen Augen bücklings einen Sack offen zu halten, bis ihm die Begleitschaft die H.-trütschen hineingejagt hätte. Man lässt ihn aber stehen, bis er den Schabernack einsieht und ungeheißen nach Hause geht».

Mit diesem neuen Wissen scheint es nicht mehr erstaunlich, dass ich den Hülpetrütsch nicht gefunden habe. Es gibt auch keinen Anlass, bei Vollmond mit Sack und Lampe nochmals auf die Pirsch zu gehen. Stattdessen muss ich demütig «den Schabernack einsehen» und erkennen, dass ich unwissend einem alten Brauch gefolgt bin: Der Simpel sucht so lange nach einem Fabelwesen im Wald, bis er merkt, dass er selbst der ­Hülpetrütsch ist.