Sie überlebte bewaffnete Gefängnisaufstände, die prekären Haftbedingungen in Venezuela bezahlte sie mit ihrer Gallenblase. Nun wurde Sandra Schneider in die Schweiz überstellt und könnte vom Schaffhauser Kantonsrat begnadigt werden – doch die Chancen stehen schlecht.
Es geschah am 25. Dezember 2010. Sandra Schneider war auf dem Weg zurück in die Schweiz. Die 48-Jährige, die in Wahrheit anders heisst, hatte drei Monate in einem karitativen Projekt in Kolumbien gearbeitet; körnige Bilder zeigen eine in weisse Tücher gehüllte Frau mit pechschwarzem Haar inmitten von lachenden Indio-Frauen.
Der Rückflug sollte von Bogotà über Caracas nach Zürich führen. Es war Weihnachten, zu Hause warteten der Ehemann und die alleinstehende Mutter. Doch in
Caracas endete die Reise abrupt. Sandra Schneider sass bereits im Flugzeug, als plötzlich die Guardia Nacional vor ihr stand – und sie in ein kleines Verhörzimmer im Flughafen abführte.
Ein Jahr später, im Dezember 2011, verurteilte sie der Staat Venezuela wegen illegaler Beförderung von Betäubungsmitteln zu 20 Jahren Gefängnis. In Sandra Schneiders Gepäck wurden zwei Schnapsflaschen gefunden, gefüllt mit zwei Kilogramm flüssigem Kokain. Die Verurteilte behauptet bis heute, nichts von den Drogen gewusst zu haben. Im Berufungsverfahren wurde die Haftstrafe auf 15 Jahre verkürzt.
Was folgte, war ein jahrelanger Spiessrutenlauf für Schneider und ihre Mutter, welche grosse Teile ihres Vermögens an zwielichtige venezolanische Anwälte überwies. Vergeblich.
Inzwischen ist der Fall der Sandra Schneider zu einem kleinen Lehrstück über grenzübergreifende Missverständnisse herangewachsen. Und auf einmal liegt das Dossier Schneider auch nicht mehr auf den Schreibtischen von venezolanischen Richtern und eidgenössischen Diplomaten, sondern, in arg verkürzter Form, auf den Pulten der Schaffhauser Kantonsparlamentarier.
Am kommenden Montag nämlich entscheidet der Kantonsrat darüber, ob Schneider begnadigt und in Freiheit entlassen werden soll – oder ob sie, wie derzeit vorgesehen, für weitere dreieinhalb Jahre in der Justizvollzugsanstalt Hindelbank im Berner Emmental einsitzen muss.
Welches Rechtssystem gilt?
Dort empfängt die mittlerweile 55-Jährige in einem schmucklosen Besucherzimmer. Grauer Pullover, grauer Schal, auch das Haar ist längst nicht mehr schwarz. Schneider duzt ungefragt und mustert den Besucher mit wachen Augen. Die Jahre in überfüllten venezolanischen Gefängnissen haben Spuren hinterlassen.
Der Schaffhauser Polizist, der sie im März 2017 in Caracas abholte und in die Schweiz geleitete, notierte später in seinem Bericht, die Gefangene sei «abgemagert und verroht». Er habe nicht unrecht, findet Schneider. Sie habe halt zwangsläufig einen ungewöhnlichen Umgang gepflegt, Schulter an Schulter neben Kidnapperinnen und Auftragskillerinnen gelegen; um ihr Essen kämpfen müssen. «Im Gefängnis muss man sich durchsetzen, sonst geht man unter. Ich habe schon ein wenig mein Mitgefühl verloren.» Dafür habe sie – Schweizer Schoggi sei Dank – schon 13 Kilogramm zugelegt, seit sie wieder in der Schweiz sei.
Wo sich Sandra Schneider gerade aufhalten würde, wenn ihr im Januar 2013 in Venezuela eingereichtes Überstellungsgesuch nicht genehmigt worden wäre und man sie im Februar 2017 nicht in die Schweiz gebracht hätte, ist laut Schweizer Behörden unklar. Sie selbst ist sich sicher: «Ich wäre längst in Freiheit.»
Die Akte Schneider füllt beim Departement für eidgenössische Angelegenheiten (EDA), beim Bundesamt für Justiz und in mehreren Schaffhauser Amtsstuben zahlreiche Bundesordner. Wenn ein Mensch, der in einem fremden Land rechtskräftig verurteilt wurde, vor seiner Freilassung in die Schweiz überstellt wird, kann man ihn hier nicht einfach laufen lassen. Doch was tut man mit ihm? Welches Justizsystem gilt unter welchen Umständen?
Für den Transport von Kokain bestraft einen der Staat Venezuela hart, viel härter als die Schweiz. Dafür kennt das venezolanische Justizsystem eine Entlassung nach rund der Hälfte der Haftzeit, man kann die Freiheitsstrafe abarbeiten. In diesem Punkt ist die Schweiz rigoroser, sie kennt eine Entlassung frühestens nach zwei Dritteln der Haftzeit.
Sandra Schneider ist durch ihre Überstellung in die Schweiz genau in die Schnittstelle zwischen drakonischer Strafe und strengem Vollzug geraten. Der Grund dürfte in der Entwicklung Venezuelas seit der Amtsübernahme von Staatspräsident Nicolás Maduro hin zum derzeit drohenden Staatsbankrott zu finden sein. Doch dazu später mehr.
Sandra Schneider erhielt, wie alle venezolanischen Gefangenen, eine Art Haftfahrplan, welcher der «az» vorliegt. Dieser besagte, dass sie am 25. Juni 2017 «auf Bewährung» entlassen werden könnte – wenn sie bis dann die dafür nötige Arbeit geleistet habe.
Mit diesem Entlassungstermin rechnete die Schaffhauserin, als man sie im Februar 2017 – viereinhalb Monate vor dem 25. Juni – aus Venezuela ausflog. Ein folgenschwerer Irrtum.
Die Akte ist verschwunden
An 8. August 2016 schrieb das Schaffhauser Kantonsgericht eine «Vollstreckbarerklärung». Darin hält es fest, die Haftzeit in der Schweiz betrage 15 Jahre abzüglich der bereits verbüssten Freiheitsstrafe in Venezuela «sowie allfälliger Haftverkürzungen durch Arbeit». Diese, und das ist der springende Punkt, muss Schneider jedoch beweisen können. Und das kann sie nicht.
Schneider hat im Gefängnis gearbeitet, die gelernte Hotelfachfrau hat die Mitgefangenen in Englisch, Stricken und Nähen unterrichtet, das geht auch aus einem Bericht eines EDA-Mitarbeiters hervor, der sie im Gefängnis besucht hatte. Handfeste Beweise – die auch den Umfang der Arbeit belegen würden – gibt es aber nicht. «Meine Vollzugsakte ist verschwunden», sagt sie. Die Akte sei im Gefängnis Coro wahrscheinlich während einer Revolte zerstört worden oder in der korrupten Bürokratie untergegangen.
Das klingt glaubhaft. Auf der Webseite des EDA liest man unter den Reisehinweisen zu Venezuela: «Die Polizei leidet unter Korruption, Unerfahrenheit sowie Geld- und Personalmangel. Das Justizsystem ist ineffizient und überlastet. Es gibt Fälle von Lynchjustiz.» Ausserdem: «Die Haftbedingungen sind sehr prekär. Überfüllte Zellen, schlechte Behandlung, mangelhafte Ernährung, verschmutztes Trinkwasser, mangelnde Hygiene, Tuberkulose-Ansteckungsgefahr, Gewalt unter den Inhaftierten etc.» Kurz: es herrscht ein heilloses Tohuwabohu.
Auch die Justizkommission des Schaffhauser Kantonsrats hält in einem Bericht fest, der Schriftenwechsel mit den venezolanischen Behörden lasse «wenig Raum für Hoffnung», dass die Akte von Sandra Schneider doch noch auftauchen werde.
Und es wird noch komplexer: Plötzlich liegt ein zweiter Haftfahrplan vor, auch er offiziell von einem venezolanischen Gericht gestempelt und unterschrieben – jedoch nicht datiert. Das Datum der «Libertad Condicional» jedoch, der vorzeitigen Entlassung, ist bei dieser zweiten Version ein anderes: Der 25. Juni 2020, exakt drei Jahre später als in der ersten Version.
Warum Jahre nach dem ersten Dokument ein zweites ausgestellt wurde, bleibt ungeklärt. Schneider selbst sagt, als Staatspräsident Hugo Chavez 2013 gestorben sei und Nicolás Maduro übernommen habe, sei die Justiz durchgeschüttelt worden. «Er wollte ein strengeres Regime. Wer mich damals verurteilt hatte, sitzt mittlerweile wohl selbst im Gefängnis.»
Vor einem Monat titelte die NZZ: «Venezuela droht die grösste Staatspleite der Weltgeschichte.» Es ist anzunehmen, dass die Behörden derzeit grössere Probleme haben, als die Vollzugsakte einer Schweizerin zu suchen, die das Land bereits verlassen hat.
Zehntausende Franken für nichts
Besuch bei Sandra Schneiders betagter Mutter in ihrer düsteren Wohnung in einem Schaffhauser Quartier. Eine Frau, der die schwierigen Haftbedingungen ihrer Tochter sichtbar zugesetzt haben, die das Vertrauen in die Menschen verloren zu haben scheint. «Ich bin nicht glücklich, dass ich Sie empfange», sagt die Mutter unverblümt. Einblick in ihre Akten und die Korrespondenz mit der Schweizer Botschaft in Caracas wollte sie der «az» nicht gewähren.
Einmal, so erzählt sie, habe sie ihre Tochter im Gefängnis in Venezuela besucht. Da hätten in einem Raum 300 Frauen auf halb so vielen Matratzen gelegen, alles sei verdreckt gewesen, je 50 Frauen hätten sich eine rudimentäre Toilette geteilt. Beim einen Besuch sei es leider geblieben: «Später konnte ich nicht mehr hin, ich bin sehr krank und wollte noch nicht sterben, sonst hätte ich meiner Tochter ja nicht mehr helfen können.» Wer hätte ihr sonst die überlebenswichtigen Essenslieferungen ins Gefängnis organisiert?
Von den selbst ernannten venezolanischen Menschenrechtsanwälten, denen sie per Western Union Zehntausende Franken geschickt habe, habe nach einigen Zahlungen plötzlich jede Spur gefehlt. «Ich frage mich, wo all das Geld und all die Sachen geblieben sind, die ich meiner Tochter besorgte.»
Einem «Blick»-Journalisten gab sie persönliche Fotos ihrer Tochter. Der Mann habe versprochen, im Gegenzug einen internationalen Anwalt für die Tochter aufzutreiben. Seither habe sie nie mehr von ihm gehört.
Nach dem Gespräch wird sie in der «az»-Redaktion anrufen und auf den Anrufbeantworter sprechen, sie habe Besuch von einem Herrn Rusch bekommen und zweifle daran, dass dieser tatsächlich hier arbeite.
Keine Schuhe, keine Matratze
Auch Sandra Schneider bleibt misstrauisch. Nach eineinhalb Stunden sind ihre Augen noch immer hellwach, sie halten ihr Gegenüber unentwegt fixiert. «Ich war im Gefängnis jeweils die einzige Gringa, die einzige Ausländerin.» Ausserdem sei sie mit 50 eine alte Frau gewesen. Die Kombination habe ihr Respekt eingebracht, sie sei nie drangsaliert worden von Mitgefangenen und Wärtern – abgesehen von den Razzien. «Da standen die Wärter plötzlich mitten in der Nacht mit Schlagstöcken in den Zellen, und man tat gut daran, sofort aufzuspringen.»
Insgesamt wurde Schneider während ihrer Haftzeit fünfmal verlegt; das sei Usus, durch die Verlegungen würde Bandenkriegen vorgebeugt. Von einer Verlegung erfahre man, wenn der Wärter vor einem stehe und einem mit der Maschinenpistole den Weg zum Bus weise. Die Habseligkeiten blieben jeweils zurück, die Kleider zum Wechseln, die Matratze, falls man eine besitze, die persönlichen Sachen. «Die Wärter hatten ja oft selbst nicht genug zu essen.» Mehrfach sei sie ohne Schuhe im neuen Gefängnis angekommen und habe auf dem Boden schlafen müssen. Privatsphäre habe es schon gar nicht gegeben. «Wir mussten selber schauen, dass wir nicht eingehen», sagt sie.
Als Schneider in der Schweiz ankam, wurde ihr im Berner Inselspital die Gallenblase entfernt. Nachwirkungen der Haft. «Ab 2015 ging es mir gesundheitlich schlecht, aber dem Gefängnis war das egal.» Auch zum Zahnarzt sei sie nicht gelassen worden, um eine Plombe zu ersetzen. Schliesslich musste der Zahn gezogen werden.
«Hindelbank ist dagegen ein Fünf-Sterne-Hotel», sagt sie. Und soviel kostet es auch etwa. Rund 250’000 Franken will sich der Kanton Schaffhausen Schneiders Aufenthalt im Einzelzimmer kosten lassen. Noch dreieinhalb Jahre soll sie hier absitzen, insgesamt zwei Drittel der 15 Jahre, so will es der Gesetzesbuchstabe – Chaos in Venezuela hin oder her.
Keine «unzumutbare Härte»
Nun hat Schneider den Schaffhauser Kantonsrat darum gebeten, sie zu begnadigen. Das Parlament kann rechtskräftige Urteile aufheben. Dabei muss es umsichtig vorgehen, das Instrument der Begnadigung umgeht streng genommen die Gewaltenteilung, einen Grundpfeiler unserer Demokratie. Am kommenden Montag entscheiden die Schaffhauser Kantonsräte, ob die Frau in die Freiheit entlassen wird oder weitere Jahre in Hindelbank verbringen muss.
Vorab hat sich bereits das Büro des Kantonsrats mit dem Fall beschäftigt. In seinem Bericht schreibt Präsident Thomas Hauser, grundsätzlich sei die «Begnadigungswürdigkeit» gegeben. Dennoch beantragte das Büro mit 4 zu 1 Stimmen, das Begnadigungsgesuch abzulehnen. Die fünf Parlamentarier vertreten FDP, SVP, SP, AL und GLP – ein Querschnitt durch das politische Spektrum. Es ist also anzunehmen, dass das Gesuch auch im Parlament einen schweren Stand haben wird. Neben den bereits angesprochenen formaljuristischen Gründen schreibt Hauser, Begnadigungen nach einer Rückführung würden sich «sehr negativ auf weitere Rückführungen aus dem entsprechenden Land» auswirken.
Ausserdem gehe aus dem Besuchsbericht eines EDA-Mitarbeiters in einem der venezolanischen Gefängnisse hervor, dass die Haftbedingungen nicht auf eine «unzumutbare Härte» schliessen liessen – den Reisehinweisen auf der EDA-Webseite zum Trotz. «Eine Farce», findet Sandra Schneider. Der EDA-Mann habe sie ein Mal in sechseinhalb Jahren besucht und nur einen Bruchteil des einen Gefängnisses gesehen.
Dann erzählt sie von bewaffneten Aufständen in an die Frauentrakte angebauten Männergefängnissen, die sie miterlebt hat. «Die Häftlinge hatten Maschinengewehre und Granaten. Sie haben die Anstalten übernommen.» Einmal hätten die Behörden ihrerseits den Frauentrakt gestürmt – um die Insassinnen zu evakuieren. «Sie hatten wohl Angst, dass die Männer rüberkommen und weiss Gott was mit uns anstellen.»
Lieber in Venezuela geblieben
Erst vor wenigen Wochen, Schneider sass bereits in Hindelbank, starben während einer Gefängnismeuterei südlich von Caracas 37 Insassen. Der Gouverneur des Teilsstaats Amazonas sprach von einem «Massaker». Die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» schrieb, die Lage in den Gefängnissen sei derzeit «wegen der schlechten Versorgungslage katastrophal».
Trotzdem, sagt Schneider, wäre sie für die restlichen viereinhalb Monate liebend gern in Venezuela geblieben, wenn sie gewusst hätte, dass sie in der Schweiz noch einmal dreieinhalb Jahre einsitzen müsste.