Anders als Adam

18. November 2017, Marlon Rusch
Das Glück wohnt in der Pfanne: tanzender Guanciale. Foto: Peter Pfister
Das Glück wohnt in der Pfanne: tanzender Guanciale. Foto: Peter Pfister

Er ist die Hoffnung der Schaffhauser Gastronomie: «D’Chuchi»-Gründer Patrick Schindler wirtet derzeit auf der «Myrta» – doch das ist längst nicht genug. Eine Annäherung bei Spaghetti Carbonara.

Das Pastawasser schmeckt nach totem Meer. Eben hat Patrick Schindler ein geschätztes halbes Kilo Jodsalz in den Topf gekippt. Den irritierten Journalistenblick quittiert er selbstbewusst: «So muss Spaghettiwasser schmecken!»

An diesem Montagabend in der geschlossenen «Myrta» auf dem Herren­acker diktiert der 32-Jährige seinem Gegenüber während Kochen und Essen ­sieben Seiten ins ­Notizbuch. Und nicht ein einziges Mal ist er um Antworten verlegen. Oder um Meinungen und Prognosen. Moderne Restaurant-Konzepte? Aus dem Stegreif. Wein? Geschenkt. Der Zustand der Schaffhauser Gastroszene? À point. Aus dem bebarteten Mund sprudeln präzise, mitunter bissige Analysen.

Angesichts der Posse um den zuerst als Gastro-Wunderkind gefeierten und später als Hochstapler entlarvten Simon Adam geniesst man die vollmundigen Worte mit Vorsicht. Doch bald schon lässt einen der akkurat frisierte junge Mann vergessen, dass man nicht nur zum Spass hier ist, in  der «Myrta», in seinem Reich. Man vergisst es, weil er selbst den Anschein macht, es längst vergessen zu haben.

Aus den Boxen dröhnt ein Spürchen zu lauter Hip-Hop aus den 90er-Jahren. Afu-Ra, A Tribe Called Quest. Bald ist eine Flasche aus dem Privatabteil des Weinkellers entkronkorkt. Grenache von einem Weingut in Australien, die Exfrau des Winzers mit Wilchinger Wurzeln, der Winzer selbst zwischenzeitlich zur Inspiration bei Markus Ruch in Neunkirch. Die Nachrecherche sagt: die Flasche zu 50 Dollar im Online-Handel, natürlich biologisch. Das ist es wohl, was man derzeit beinahe salbungsvoll «glokal» nennt.

Ob er zum Termin etwas kochen könne, fragte ich Patrick Schindler vorab am Telefon – und erwartete insgeheim, dass er im Sinn habe, die Presse mit einem tiefen Griff in die kulinarische Trickkiste zu beeindrucken. «Ich mache Spaghetti Carbonara», sagt er am Montagabend nüchtern. In den folgenden Stunden werden Sätze folgen wie: «Früher waren Köche in erster Linie solide Handwerker», «die einfachsten Rezepte sind die Schwierigsten» oder «eine gute Carbonara berührt mich mehr als ein Reh-Dreierlei». Aber es sei halt schwer, die Leute mit einer Spätzli­pfanne zu locken.

Item, jetzt leert er erst mal den Inhalt einer kleinen Globus-Tüte auf die Chromstahl-Ablage: 6 Eier, ein Gläschen Pfeffer, Guanciale (luftgetrockneter Schweine­nacken aus Mittelitalien, «wie im Original»), Parmigiano («Peccorino mag ich nicht»), kein Rahm (!) und 4 verschiedene Packungen Spaghetti («ich konnte mich nicht entscheiden»). Die Zugfahrt Zürich–­Schaffhausen hat er genutzt, um sich in nerdigen Blogs über Beschaffenheit und Qualität der einzelnen Sorten zu informieren.

Der Netzwerker
«Freizeit», wenn es so was im Leben eines umtriebigen Gastrounternehmers gibt, bedeutet immer auch Recherche. Auf Insta­gram ploppen Hunderte gefüllte Teller auf, sie stehen auf Tischen rund um den Globus. Und wenn Schindler reist, bringt er Rezepte und Techniken mit nach Hause wie andere Buddha-Statuen.

So entstand vor ein paar Jahren etwa das «Soi Thai», ein temporäres Restaurant in der alten Seilerei Denzler, laut Tages-Anzeiger «Zürichs schärfstes Pop-up». Zur Eröffnung erwarteten er und sein Team 80 Gäste. Es kamen 300. Die für zwei Wochen berechneten Vorräte waren am zweiten Tag alle. Subito musste Personal angestellt und im Akkord nachproduziert werden. Es sind die Momente, in denen der Jungkoch aufblüht. Für die er täglich 15 Stunden arbeitet.

Schindler hat offenbar ein Gespür dafür, mit seinen Ideen zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Bis vor Kurzem stand ein Ableger namens «Riverside» am Lindli, die Küche in einem Seefrachtcontainer, Stühle und Geschirr Eigenimport aus Bangkok, bunter Plastik, billig gefertigt, halt wie in den Ferien. «Wir verkaufen den Leuten mit den Pop-ups kein Essen, sondern ein Ticket, um in eine andere Welt einzutauchen.» So ein Restaurant wie das «Soi Thai» könne er jederzeit überall in der Schweiz eröffnen, das würde laufen, ist er überzeugt. Aber er tut es nicht. «Dann würden die Leute ja sagen, der Schindler kann nur Thai.» Ausserdem würde ihm dabei fürchterlich langweilig.

Also das nächste Projekt: «Die Stadt­halle», ein hochklassiges Pop-up mitten in Zürich,  der Dreigänger unter 100 Franken, Co-Produktion mit dem Zürcher Pop-up-König Valentin Diem und Nenad Mlinarevic, 36 Jahre, 18 Gault-Millau-Punkte, «Koch des Jahres 2016». Schindler ist der Netzwerker des Triumvirats.

Zwischen «Soi Thai» und «Stadthalle» diverse kleinere Projekte. So hat er kürzlich André Jäger für einen «Meet Day» im «Meier’s Pool» zwischenzeitig aus dem Ruhestand geholt.

«Wenn ein Projekt angelaufen ist, musst du anfangen, das nächste zu planen.» Für ihn bedeutet das derzeit:  «Bockalp» auf dem Herrenacker. Schindlers Arbeit ist die Konzeption, die Logistik; in der Halligalli-Blockhütte wird man ihn kaum je antreffen. «Die Bockalp und die gehässigen Reaktionen der Gastronomen sagen viel über den Platz Schaffhausen», sagt er, nun hörbar enerviert. Das Städtchen hinke hinterher. 3’500 Reservationen in vier Wochen würden dem Konzept ja wohl recht geben. Das zeige eindrücklich, wie einfach es wäre, Resonanz und Kundschaft zu bekommen. So was hätten alle anderen Gastronomen auch längst aufziehen können. Haben sie aber nicht. Stattdessen würden sie jammern, die Schaffhauser gingen zunehmend im benachbarten Deutschland essen. Dann doch wieder ein Lächeln.

Wieso er überhaupt noch in Schaffhausen lebe und wirke? Schindler antwortet, er wolle «etwas bewirken». Es klingt nach Mission. Wenn es tatsächlich eine ist, war sie bisher erfolgreich. Das Bewusstsein einer jüngeren Generation Schaffhauserinnen und Schaffhauser dafür, dass Essen sinnlich sein kann, einen Wert hat – und halt auch seinen Preis –, darf man durchaus mit den Namen Schindler in Verbindung bringen.

Der Erneuerer
Mittlerweile sind die Spaghetti al dente (die Wahl fiel auf die «Trafila Rudiva di Semola» von Giuseppe Cocco), der Guanciale durfte im Butter baden und wurde danach mit dem Parmigiano-Ei-Gemisch (drei ganze Eier, drei Eigelb) unter die Pasta gezogen. Der Koch greift kräftig zu und schenkt nach.

Wein. Die Leidenschaft. Neben dem ganzen Stress arbeitet Schindler auch noch zwei Tage die Woche als Berater in einer Berner Weinhandlung. Es ist wohl seine Art der Entspannung. «Damit werde ich nie aufhören; ausser es passiert etwas ganz Furchtbares.»

Zum Wein fand Schindler durch die Küche, genauer durch «d’Chuchi». Sein erstes Restaurant, sagt er, hätte eigentlich sein letztes sein sollen. Wie Ueli Müngers «Wii am Rii», einer von Schindlers Lieblingsorten. Eine Handvoll Tische, kleines Team, wandelbare Karte, Fokus auf saisonale Zutaten. «Halt so, wie ich selber gern esse. Meine Kinder sollen schliesslich nicht glauben, dass im Winter Erdbeeren wachsen.» «D’Chuchi» funktionierte, Schindler und später ein Küchenchef hinter, seine Frau vor dem Tresen. «Alle haben gesagt, das Konzept könne nicht rentieren, dabei ist das einfach zu rechnen: Der Hund ist immer in den Personalkosten begraben Wir brauchten nur besetzte Tische.» Und die hatte er. Bis es ihm langweilig wurde.

Mittlerweile wirtet Schindlers ehemaliger Küchenchef auf der «Chuchi» und hat erst kürzlich einen «Bib Gourmand» verliehen bekommen, die Michelin-Auszeichnung für besonders sorgfältige, aber auch preiswerte Küche.

Versucht man, nach der zweiten Portion Spaghetti Carbonara (tatsächlich ausgezeichnet) und dem dritten Glas Rotwein, aus dem Gespräch Parallelen herauszuschälen zwischen Patrick Schindler und seinem vermeintlichen Pendant Simon Adam, geht das erstaunlich wenig über «jung» und «bekannt» hinaus. Ganz anders bei den Unterschieden. Vielleicht kann man zwei Paradigmen definieren: «Fokus auf Qualität» und «Fokus auf Quantität». Während sich Adam mit seiner  Gier nach Ansehen immer mehr und immer grössere Restaurants einverleibte und irgendwann daran zerbrach, ist Schindler auf einer immerwährenden Suche nach der guten Küche. Dabei ist er auch bereit, kulinarische wie ökonomische Erfolgsrezepte hinter sich zu lassen.

Die «Myrta» sei noch nicht, wo er sie haben wolle, sagt er, während er die Teller abräumt. Aber er sei mittlerweile ziemlich zufrieden. Was noch komme? Eine Weinbar würde er gern eröffnen, sowas fehle in Schaffhausen, mit Charcuterie aus der Region. Oder einen Japaner, die Küche fasziniere ihn. Oder eine Pizzeria. Eine richtig, richtig gute Pizzeria. Einewäg: Nichts gehe über eine gute, ehrliche Pizza.