Das Ramser «Theater 88» ist eines der meistbeachteten Laientheater des Kantons. Was ist das Geheimnis des guten Dorftheaters? Sein Erfolg liegt in einer grossen Portion Schnauf, seiner Lage in der Provinz und dass man dort auch mal fünf gerade sein lässt.
Der Premierenabend ist ausverkauft. Und wie immer sitzen neben Ramsern und solchen, die aus Heimweh kommen, auch Leute von weiter weg im Publikum. Das «Theater 88» hat sich in den bald dreissig Jahren seit seiner Gründung einen Ruf als solides, auf hohem Niveau agierendes Laientheater erarbeitet.
In diesem Jahr fordert Regisseurin Susanne Breyer von den Darstellern nicht nur Spielfreude, sondern auch Gesangskünste – das Stück «De Franzos im Ybrig» von Thomas Hürlimann lebt von den eingeflochtenen Liedern, die mit den beiden Musikschaffenden Nathalie Fahr und Andy Salzmann eingeübt wurden. Und auch wenn sie bei Weitem nicht jeden Ton treffen, gelingt es den Darstellern, zwischen lebensbejahender Ausgelassenheit und morbider Poesie zu balancieren.
Denn obwohl als Komödie angelegt, hat das Stück auch Tiefgang. Und passt als intelligente Komödie mit Herz und Verstand sehr gut in die Reihe der bisherigen Produktionen und zum Anspruch des «Theaters 88».
Mordskerl? Eher weniger …
Doch zuerst lohnt sich ein Blick auf das Stück: Etwas Fremdes kommt auf die Ybriger zu. Napoleon und seine Schreckensarmee sind nicht mehr weit. Was tun? Die Mannen ziehen, sich Mut ansingend, den Berg hinauf, um den Feind von oben zu überraschen. Eine Lawine soll die Franzosen hinterrücks begraben.
Während sie bald einmal frierend im Schnee sitzen und ihren Plan noch einmal überdenken, haben sich ihre daheimgebliebenen Frauen mit der Situation – nun ja – bestens arrangiert. Drohende Lawine hin oder her. Denn kaum sind die Männer weg, ist der gefürchtete Franzose auch schon da. Ein einziger. Und besonders gfürchig ist der nicht. Es ist der Armeemaler Foulon, mit ramponiertem Bein, der im Dorf auf ein paar nette Seelen und ein Glas Limonade hofft. Die findet er – auch wenn die Frauen sich «eingehudelt» haben, damit sie von den Soldaten in Ruhe gelassen werden. Und sie finden ihn, den Chouchou, ganz nett. Was soll’s, die Männer sind eh weit weg. Und der arme Soldat? Der gibt Fersengeld. Nur – vergebens.
Alpenmagie und Berggeister
Foulon, der «Pinsel Napoleons» – da beginnt schon die eindeutige Zweideutigkeit. Die derben Sprüche verfehlen ihre Wirkung nicht. Ihnen gegenüber stehen feine, poetische Szenen, die darin fast untergehen. Denn der Tod ist nie weit im Ybrig, auch ohne fremde Bedrohung: Der Sarg-Toni (herrlich lakonisch: Stephan Hugentobler) zieht mit zynisch-trockenem Gestus um die Häuser. Nicht als Schreckgestalt, sondern eher als unliebsamer Zeitgenosse, der seine notwendige Arbeit tut und den Leuten – sprichwörtlich – die Lichter ausbläst: «S ist Krieg! Uns wachsen bald die Kerzen aus dem Schädel. Und ein ganzer Wald von Kreuzen.» Besagte Kerzen sitzen auf dem Rand seines Zylinders und leuchten wie drohende Irrlichter im Halbdunkel.
Es ist mystisch, dieses Stück, voller Alpenmagie, die sich auch oben am Berg zeigt, wo die Männer, statt ihre Lawine zu bauen, immer noch im Schnee schlottern. Als nämlich der Heilige Josef, eine Holzstatue, die himmlischen Beistand leisten soll, plötzlich zu sprechen beginnt, helfen nur noch Beschwörungsformeln.
Derweil hat der Sarg-Toni einen neuen Auftrag. Aber es ist nicht, wie vermutet, Mutter Kälin (Magdalena Gnädinger), die ihm folgt, sondern die junge Vogellisi (Sabrina Bloch), die ihr Neugeborenes in den noch blutigen Laken zurücklassen muss. Doch ganz loslassen kann sie die hiesige Welt noch nicht. Als hübsche Leiche mit Brautkleid und Schleier, die sie im Tausch gegen ihr Bübchen von Freundin Steffi (Melinda Wunderli) bekommen hat, verfolgt sie das weitere Geschehen mal im, mal aus dem Sarg heraus …

Da ist er, der Franzos! Die Frauen sind (noch) in Alarmbereitschaft.
Es hat sich längst herumgesprochen, dass man es da hinten in Ramsen anders macht als anderswo. Gezeigt werden nicht die gewohnten Verwechslungskomödien, die auch und gerade deshalb lustig sind, weil der Pöstler und die Verkäuferin vom Volg-Lädeli auf der Bühne stehen: «Damit fänden wir sicherlich auch unser Publikum», sagt Vereinspräsident Matthias Brütsch, «aber uns interessieren Stücke, die mehr zu bieten haben als nur Schenkelklopfer.» Er steht – wie seine Schwester Magdalena Gnädinger – seit 25 Jahren jedes Jahr auf der Bühne: Jubiläum. Neben motiviertem Nachwuchs brauche es Leute mit Erfahrung, die wüssten, was machbar sei und was nicht: «Eine gute Konstanz ist uns sehr wichtig.»
Von Anfang an fühlte sich das «Theater 88» zu Höherem berufen und scheute sich nicht, dafür viel Arbeit in Kauf zu nehmen. «Die Spieler zeigen eine irrsinnige Liebe und Begeisterung für die Bühne», sagt Ingrid Wettstein, die schon einige Male in Ramsen Regie geführt hat. «Das Ensemble ist total angefressen und beweist extrem viel Schnauf.»
Von Shakespeare bis Dürrenmatt, von der Gangsterposse bis zum Gruselmärchen – noch nie hat sich das «Theater 88» auf eine bestimmte Theatergattung festgelegt. «Wir versuchen, bewusst zu überraschen und immer verschiedene Genres zu zeigen», sagt Matthias Brütsch. Um das zu erreichen, besteht das Ensemble darauf, die Regie jeweils zu wechseln. Das bringe neuen Wind und neues Know-how. Und auch hinter der Bühne, bei den Verantwortlichen für Licht und Kostüme etwa, setzt das Laientheater auf erfahrene Leute. «Wir könnten das auch selber machen – aber es wäre niemals so stimmig, wie es jetzt ist», so Brütsch. Und man lerne bei jeder Produktion wieder etwas dazu: «Diese Art des Theaters bringt uns weiter und motiviert immer wieder von Neuem.»
«Urviecher» mit Power
Aber wo liegt es denn nun, das Geheimnis des «Theater 88»? Es sei erstaunlich, wie sich das Ensemble immer wieder auf neue Inszenierungsarten einlasse, sagt Regisseur Jürg Schneckenburger (auch er hat bereits mit den Ramsern gearbeitet): «Das Besondere ist der Mut des Ensembles, sich auf neue Leute einzulassen.» Das sei wohl der Grund für die stete Entwicklung des Theaters.
Ingrid Wettstein sieht das Geheimnis woanders: Das Dorf sei seit je sehr eigenständig und habe ein funktionierendes Vereinsleben. «Ramsen liegt in der Provinz – weit entfernt von Schaffhausen.» Man wolle sich und dem Dorf etwas bieten und ein buntes Eigenleben erhalten. Bezüglich Theater hätten viele Spieler etwas Urtümliches, ein natürliches Talent: «Es gibt einige ‹Urviecher›, die einfach Power haben. Das Theater 88 will anders sein.»
Damir Žižek, der 2016 im Rahmen des «SHpektakels» das Stück «Romulus der Grosse» inszeniert hat, zieht den Hut vor dem Ensemble, das dasselbe Stück ein Jahr zuvor auf die Bühne gebracht hatte: «Sie geben sich Mühe, das finde ich gut.» Trotzdem: Die Truppe bleibe ein Laientheater und sei mit professionellen Bühnen nicht zu vergleichen. Aber das sei wohl auch nicht das Ziel der Ramser.
Und auch Walter Millns, der schon sechsmal in Ramsen inszeniert hat, fühlt sich wohl in der Provinz: «Schade eigentlich, dass die Regie jedes Mal wechselt – ich würde jedes Jahr kommen!» Aber dadurch halte sich das Ensemble jung und frisch. «Es erfindet sich immer wieder neu», so der Autor und Regisseur, «und ist enorm engagiert. Gleichzeitig gehen die Mitglieder sehr locker miteinander um – ja, das ist wohl ihr Geheimnis – sie lassen fünf auch mal gerade sein.»
Das alles kommt auch dem Publikum zugut: Der Verein möchte den Leuten einen gefälligen Abend bieten, sagt Matthias Brütsch: «Eine Mehrzweckhalle hat von sich aus ja nicht gerade viel Charme, aber auch dank des Vereinsvorstands können wir sie jeweils in ein stimmungsvolles Theater verwandeln.»
Dazu gehört die Dekoration nicht nur des Bühnenraums – schon im Foyer werden die Zuschauer auf das Stück eingestimmt. Diesmal mit Schweizerfahnen, Schwingerhosen und Sennenhemden: Das Stück spielt mitten in der Innerschweiz. So konkret die Deko in der Theaterbeiz, so mystisch gibt sich das Bühnenbild. Oben auf dem Berg, schon halb schneeblind und mit dem Flüstern des Windes im Ohr, braucht man nur das passende Licht und den richtigen Klang, damit sich die Berggeister von Neuem rühren.
Das «Theater 88» zeigt sein aktuelles Stück «De Franzos im Ybrig» noch bis zum 30. September täglich (ausser sonntags und dienstags) jeweils um 20 Uhr in der Aula Ramsen. Die Theaterbeiz-Crew bittet ab 18.30 Uhr zu Tisch. Reservationen und Infos unter www.theater88.ch.