Das Schaffhauser Flurnamenbuch hätte schon vor Jahren erscheinen sollen. Dann ging fast alles schief,
was schiefgehen konnte. Derzeit streitet der Kanton mit der Universität Zürich um Geld.
Es geht um unklare Verträge, einen Schicksalsschlag und den Kampf zwischen hoch dekorierten Gelehrten der Universität und einheimischen Lokalhistorikern um die Deutungshoheit über Ortsnamen. Derzeit streitet sich der Kanton Schaffhausen mit der Rechtsabteilung der Universität Zürich um Hunderttausende Franken. Fast wäre das auf 2014 angekündigte und eine Million Franken teure Projekt noch vor Abschluss begraben worden. Als neuer Vernissagetermin wird vorsichtig Weihnachten 2018 genannt.
Das Projekt Flurnamenbuch, laut Staatsarchivar Roland Hofer «eines der grossen Schaffhauser Forschungsvorhaben der letzten 50 bis 100 Jahre», schlitterte über die Jahre in eine immer grösser werdende Krise. Dabei war man am Anfang noch ein Herz und eine Seele.
Am 25. April 2006 genehmigte der Regierungsrat das Projekt für ein Schaffhauser Flurnamenbuch. Es sollte eine umfassende Darstellung aller rund 18’000 Orts- und Flurnamen im Kanton sein. Man wollte ihre Herkunft und Wandlungen bis zurück ins frühe 9. Jahrhundert bestimmen, eine offizielle Schreibweise definieren. Man sprach von einem historischen «Mammutprojekt», und der Kanton sprach dafür 494’000 Franken aus dem Lotteriefonds.
Das Projekt kam nicht aus dem Nichts. Seit 1998 trägt die Schaffhauser Flurnamenkommission um den Historiker Eduard Joos und den Sprachwissenschaftler Alfred Richli zusammen mit weiteren lokalen Kapazitäten Flurnamen zusammen. Sie betreiben klassische Feldforschung, gehen in die Gemeinden, sprechen mit Gewährsleuten, die sich auskennen in Land und Lokaldialekt. Anlass dafür gab das Amt für Geoinformation, das ehemalige Vermessungsamt, welches alle Karten digitalisieren und die Sprache so vereinheitlichen wollte, dass sie auch als Grundlage für das Grundbuch und die Landestopografie dienen konnten.
Am Anfang herrschte Eintracht
Da gleichzeitig in verschiedenen anderen Kantonen Flurnamen erhoben und zu Flurnamenbüchern zusammengefasst wurden, witterten die Lokalhistoriker Synergien. Im Kanton wurde der «Verein zur Herausgabe des Schaffhauser Flurnamenbuches» gegründet. Dieser tat sich mit dem Thurgauer Sprachwissenschaftler Eugen Nyffenegger zusammen, der zwei Jahre darauf den Henning-Kaufmann-Preis gewinnen sollte – die höchste Auszeichnung in der deutschen Namensforschung.
Die Koryphäe Nyffenegger betrieb ein Büro in Kreuzlingen, wo er unter anderem gerade auch ein Flurnamenbuch für den Kanton Thurgau erarbeitete. Textbausteine, Methode, Layout – alles hätte ohne Zusatzarbeit übernommen werden können. Und dank Nyffeneggers Reputation und Vernetzung konnte der Nationalfonds mit an Bord geholt werden, welcher bis 2016 in drei Tranchen insgesamt 455’000 Franken sprechen sollte.
Auf solidere Beine, so dachte man damals, kann man ein solches Projekt nicht stellen.
Während die Fachleute Joos und Richli und die Flurnamenkommission sich um die Arbeit im Feld kümmerten, gingen Nyffenegger und sein Team in die Archive, durchforsteten historische Kataster und Zinsbücher, in denen Flächen über Flurnamen definiert wurden. Damit speisten beide Seiten eine zentrale Datenbank, die Eugen Nyffenegger betreute. Dies sollte noch zu schwerwiegenden Problemen führen. Lange aber ging alles gut.
Noch im Januar 2013 sagten Eduard Joos und Staatsarchivar Roland Hofer im Schweizer Radio überschwänglich, das dreibändige Werk solle 2015 erscheinen.
Dann beginnt die Geschichte sich in verschiedene Versionen aufzuteilen.
Fakt ist: 2013 wurde die offizielle Leitung des Projekts von Eugen Nyffenegger an Elvira Glaser übertragen. Glaser ist Professorin für Germanische Philologie und hat einen Lehrstuhl an der Universität Zürich. Nyffenegger war zu diesem Zeitpunkt bereits über 70 Jahre alt, was den Wechsel aus Sicht des Nationalfonds notwendig machte. Die Universität sagt, Glaser habe das Projekt nur übernommen, um die Fortsetzung der Finanzierung durch den Nationalfonds zu gewährleisten. Sie hatte die Verantwortung, Nyffenegger arbeitete wie bisher weiter – als faktischer Projektleiter.
«Eindeutige Fehler»
Inzwischen merkte Eduard Joos, dass sich in den Deutungen von Nyffeneggers Team Fehler eingeschlichen haben. Er erzählt von eindeutigen Fehldeutungen und präsentiert der «az» eine Liste mit über 90 Flurnamen, wie sie heute noch unter www.ortsnamen.ch zu finden sind. Drei Beispiele:
«Aachhaalde (Hem): Diminutiv Eichîn zum FamN von Eich + Appellativ Haalde: ‹Hang des Eichîn›.» – Joos erklärt: «Im Schaffhauserdialekt ist Aach eine Eiche, die Aachhaalde also ein mit Eichen bewachsener Hang.»
«Ärggele (Ber): Landstück mit Blick auf einen Erker.» – Joos: «Das Gewann liegt hinten im Lieblosental, weit ab von jedem Haus und Erker.»
«Öhninger (Stein): FamN Öhninger: ‹Flur des Öhninger›.» – Joos: «Das hat mit Familiennamen wieder nichts zu tun. Es handelt sich um das Öhningen zugewandte ehemalige Stadttor in Stein am Rhein.»
So könne das Buch unmöglich publiziert werden, befand der Flurnamenverein. «Man hätte in ganz Schaffhausen über uns gelacht», sagt Joos.
Als Vereinspräsident habe er die Fehler zuerst bei Nyffenegger und später bei Projektleiterin Glaser moniert. Er habe zusammen mit Hans Ulrich Wipf in knapp fünf Monaten 7’600 Textseiten korrigiert. Diese Korrekturen seien von der Redaktion in Kreuzlingen aber nur unzulänglich übernommen worden. Viele Fehldeutungen seien geblieben. Irgendwann, so erzählt Eduard Joos, habe der Flurnamenverein gefordert, dass Nyffeneggers Team vom Projekt abgezogen werde. Als Reaktion habe dieser dem Flurnamenverein den Zugang zur Datenbank gesperrt. Die Situation eskalierte. Dann erkrankte Eugen Nyffenegger auch noch schwer.
Er selbst kann die Geschehnisse zum heutigen Zeitpunkt krankheitsbedingt nicht mehr kommentieren. Dafür erklärt Stefan Würth seine Sicht der Dinge. Der Ortsnamenforscher war Mitarbeiter von Nyffenegger und innerhalb des Teams verantwortlich für die Deutungen des Projekts – für den Teil also, den der Flurnamenverein für fehlerhaft hält. Würth sagt: «Sie haben uns eine Liste mit 20 Deutungen vorgelegt. 20 von 18’000. Dann begann die Hölle.»
Die Delegation um Eduard Joos sei immer wieder mit neuen Forderungen zu den Sitzungen gekommen, habe sich eingemischt, wo sie nichts zusagen gehabt hätte, und es sei unmöglich gewesen, ihr etwas recht zu machen. Joos wehrt sich und zeigt den Arbeitsvertrag zwischen dem Flurnamenverein und Nyffenegger, der belegt, dass «sämtliche im Rahmen des Arbeitsverhältnisses erstellten Werke» Eigentum des Flurnamenvereins sind. «Wir sollen nichts zu sagen haben?» Doch Verträge rückten in den Hintergrund, die Differenzen wurden emotional. Würth bestätigt, dass Nyffenegger den Zugang des Flurnamenvereins zur Datenbank gesperrt habe, angeblich als Reaktion auf Anschuldigungen von Joos. Eine einvernehmliche Lösung rückte in weite Ferne.
Die Politik schreitet ein
Die Akteure waren praktisch handlungsunfähig, viele Monate verstrichen und Deadlines wurden überschritten. Auch weil Nyffenegger irgendwann im Jahr 2015 nicht mehr fähig war, die Informatik instandzuhalten. «Wir waren ein Schiff ohne Kapitän», erinnert sich Würth.
Dann wurde politischer Druck aufgebaut. Die Begleitgruppe des Kantons unter der Leitung von Regierungsrat Christian Amsler sprach bei Elvira Glaser vor. «Wir haben beschlossen, das Projekt durch den Flurnamenverein abzuschliessen», sagt Amsler gegenüber der «az». Glaser habe zuerst gesagt, im Projekt stecke Arbeit der Universität, die Schirmherrschaft bleibe bei ihr. Später habe sie jedoch eingewilligt und dem Schaffhauser Flurnamenverein im Juni 2016 die Daten übergeben. Offenbar hatte die Rechtsabteilung interveniert.
Die Krux: Für das eine Projekt gibt es zwei Arbeitsverträge. Einen zwischen Nyffenegger und dem Flurnamenverein, einen weiteren zwischen Nyffenegger und dem Nationalfonds. Glaser, so vermutet Joos, hatte nur die Geschichte mit dem Nationalfonds auf dem Radar. Er sagt: «Wir mussten das Projekt der Uni aus der Hand nehmen, wenn wir je zu einem publizierbaren Buch kommen wollten.»
Zu diesem Zeitpunkt war die eigentliche Arbeit aus Sicht von Universität und Nationalfonds abgeschlossen; entsprechende finanzielle und wissenschaftliche Berichte der Universität wurden vom Nationalfonds, der die Hälfte des eine Million Franken schweren Projekts bezahlt hatte, bereits abgesegnet. Der Nationalfonds bestätigt auf Anfrage, die Fördergelder seien «reglementskonform» eingesetzt worden. Die Universität sagt, überdies seien auch die vertraglichen Pflichten gegenüber dem Flurnamenverein «vollumfänglich erfüllt» worden.
«Unwahr!», findet Joos. Für ihn war die Sache damit längst nicht erledigt. «Wir müssen jetzt alles nochmals kontrollieren», sagt er. «Etwa zehn Prozent der Deutungen sind offensichtlich fehlerhaft. Die müssen wir heraussieben, sonst können wir nicht mit gutem Gewissen publizieren.» Der Vereinspräsident rechnet mit «zwei Mannsjahren» Arbeit.
Im Flurnamenverein sei bereits die Option diskutiert worden, das Projekt ohne Publikation zu begraben. Damit wären viele Jahre Arbeit, eine Million Franken und die Erwartungen der vielen Gewährsleute in den Gemeinden, die das Projekt mit ihrer Lokalexpertise unterstützt hatten, zerstört gewesen.
Die Uni soll zahlen
Also, sagt Eduard Joos, habe er sich anerboten, das Projekt selbst zum Abschluss zu bringen. Schliesslich fühle er sich als Präsident des Flurnamenvereins moralisch verantwortlich. Für ihn bedeutet das: Alles nochmals durchackern, allfällige Fehler korrigieren, viele Monate lang, von 9 bis 17 Uhr.
Christian Amslers Begleitgruppe entschied, bei der Universität 70’000 Franken für das Layout, welches die Universität noch schulde, einzufordern. Zusätzlich fordert der Kanton eine «Rückerstattung bereits bezahlter Projektbeiträge für nicht erbrachte Leistungen von Prof. Dr. Glaser bzw. der Universität Zürich», wie es Amsler ausdrückt. Insgesamt geht es um einen tiefen sechsstelligen Betrag.
Derzeit ist ein Rechtsstreit hängig, weshalb die Uni nicht auf Details eingehen will. Der Strafrechtsprofessor und Prorektor der juristischen Fakultät, Christian Schwarzenegger, lässt ausrichten, dass die Universität «im Sinne eines Entgegenkommens und ohne rechtliche Verpflichtung» im Mai 2017 angeboten habe, den Flurnamenverein «zu unterstützen». Mehr will er nicht sagen. Auch Regierungsrat Amsler will sich nicht präziser zu den laufenden Verhandlungen äussern.
Inzwischen kündigt Joos an, das Buch werde an Weihnachten 2018 erscheinen. Der historische Verein, die Sponsoren und der Kanton stünden voll und ganz hinter dem Projekt.
Regierungsrat Amsler sagt, er wolle mit der Uni «keinen Kampf auf Biegen und Brechen». Er sei optimistisch, dass das Buch erscheinen werde. Angesichts der Vorgeschichte bleibt dem Kanton eigentlich auch gar nichts anderes übrig.