«Auch Volksmusik ist Subkultur»

10. August 2017, Andrina Wanner

Alternative Sounds versus kommerzielle Volksmusik. Ist es wirklich so einfach? Wir trafen Giulia Gasser, Musikredaktorin bei Radio Rasa und Organisatorin des «Pool Rules»-Festivals in der Rhybadi, und Lisa Stoll, erfolgreiche Alphornistin, zum Doppelinterview über Klischees, Kitsch und die Helden der Kindheit.

Giulia Gasser, Lisa Stoll – welchen Song habt ihr als letztes gehört?

Giulia Gasser «Virile» von «The Blaze», ein wunderschönes Slow-Dance-Stück über ein schwules Liebespaar.

Lisa Stoll Bei mir war es – nein, keine Volksmusik, sondern ein Song von Ed Sheeran. Ich habe gerade Tickets für ein Konzert von ihm gekauft.

Ihr seid im gleichen Dorf aufgewachsen, beide musikbegeistert – und mögt auf den ersten Blick ganz verschiedene Musikstile, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Sind das eure musikalischen Vorlieben oder gibt es auch andere Gründe für das, was ihr tut?

Gasser Wir sind übrigens sogar Coucou­sinen! Mir geht es schon hauptsächlich um die Art der Musik. Ich machte ein Praktikum bei Radio Rasa und habe später im Rahmen meiner Ausbildung an der FMS ein Sendungskonzept entworfen. Dadurch kam ich wieder zum Radio – mir gefielen die Leute, die Atmosphäre, die Musik. Und wenn du Arbeit bei einem Radio findest, das auch noch die Musik spielt, die du magst, ist das natürlich perfekt.

Stoll Bei mir war es ein wenig anders. Ich bin erst über mein Instrument zu dieser Musikrichtung gekommen, denn in meiner Familie hört man keine Volksmusik, und sie ist in unserer Region ja auch nicht sehr verbreitet. Bald habe ich andere Volksmusiker kennengelernt, die mich von Anfang an unterstützten. Mir gefällt die Musik sehr, und ich spiele sie wirklich gerne, trotzdem möchte ich musikalisch auch in eine moderne Richtung gehen, die mehr meinem Alter entspricht. Im Moment überlege ich, wie das aussehen könnte – mit der Gefahr, dass ich damit einige Fans vor den Kopf stosse oder eben neue dazugewinne. Ich bin ja mit der Volksmusik gross geworden – wenn die Leute meinen Namen hören, denken sie an das traditionelle, volkstümliche Alphorn.

Gasser Hast du denn in den letzten Jahren einen Wandel feststellen können in der Volksmusik?

Stoll Ja, absolut. Lange waren Stücke gerade für das Alphorn eher langsam und getragen. Ausser zum Beispiel Pepe Lienhards «Swiss Lady», dort wird das Alphorn ja ziemlich populär eingesetzt.

Gasser Dieses Lied kenne ich sogar! Und übrigens höre ich dich manchmal üben, wenn ich in Wilchingen bin – je nach Windrichtung (lacht).

Lisa Stoll: «Viele glauben, dass man mit dem Alphorn nur einen gewissen Stil spielen könne. Aus diesem Klischee möchte ich das Instrument herausholen.»

Zurück zu den Gegensätzen: Wie würdet ihr eure Musikstile gegenseitig beschreiben?

Gasser Mit Klischees – die meisten denken wohl, dass Volksmusik nur von älteren Menschen gehört wird, was ja nicht unbedingt stimmt. Aber wenn ich dich, Lisa, im Musikantenstadel spielen sehe, sitzen da halt meistens ältere Leute im Publikum. Dagegen spricht «meine» Musik mehr Altersgruppen an – das kommt aber immer auch auf die Location an. (Überlegt) Obwohl – die Volksmusik ist ja eigentlich auch eine Art Subkultur, man bekommt ja nicht viel davon mit.

Stoll Weil du dich nicht damit beschäftigst, klar.

Gasser Und Volksmusik läuft auch nicht prominent im Radio. Dich habe ich jedenfalls noch nie gehört! Ich glaube, sowohl über deine als auch über meine Musikrichtung weiss man allgemein nicht allzu viel. So entstehen Vorurteile oder eine gewisse Distanz – oder eben echtes Interesse, das kann ja auch sein.

Stoll Bei mir ist das ähnlich. Ich kenne die alternative Musikszene nicht sehr gut, und wenn ich dann einmal per Zufall einen «alternativen» Song höre, erkenne ich in wahrscheinlich nicht einmal als solchen. Allgemein könnte man wohl sagen: Was im Radio läuft, ist Mainstream, und die alternative Musik ist etwas Besonderes, das sich von der Masse abheben will.

Gasser Aber es ist ja nicht so, dass alternative Musik den Massen nicht gefallen kann. Viele wissen einfach nicht darüber Bescheid, weil die Hauptbeweggründe dieser Bands nicht die Bekanntheit oder der Erfolg sind, sondern so viel wie möglich musizieren zu können.

Das Schöne ist, dass in der alternativen Musik nicht schubladisiert wird. Wenn ich persönlich Musik höre, dann nicht mit dem Gedanken, dass ich Kommerz verabscheue und deshalb nur Alternatives höre. Es geht mir um die Qualität der Musik – die kann ruhig auch mal kommerziell sein. In den Charts sind viele Songs fast identisch, oft genau gleich aufgebaut und auf das Management, auf den Erfolg und die Einnahmen fixiert. In der alternativen Musik steht das eher im Hintergrund – obwohl auch hier eine Kommerzialisierung zu spüren ist. Denn man kann natürlich niemandem verübeln, Geld verdienen zu wollen. Der Musikmarkt befindet sich in steter Veränderung, das macht ihn so spannend.

Es ist wohl gerade bei diesen beiden Musikrichtungen nicht ganz einfach, sie zu beschreiben. Auf den ersten Blick könnte man die alternative Musik als idealistisch und rebellisch bezeichnen, die Volksmusik als oberflächlich, maskenhaft und immer fröhlich.

Stoll Moment, du beschreibst gerade den Schlager. Das ist etwas ganz anderes. Das Aufgesetzte, das Kitschige – das gefällt auch mir nicht. Die Volksmusik ist Tradition, wird schon lange gelebt und weitergegeben. Ausserdem ist sie ganz unterschiedlich, in jeder Ecke der Schweiz wieder anders, das ist sehr spannend. Und es gibt sie nicht ja nur in der Schweiz, sondern auf der ganzen Welt.

Gasser Und hier kommt wieder die alternative Schiene ins Spiel: Ich liebe Musik mit afrikanischen Grundrhythmen – das ist ja auch Volksmusik. Und vielleicht gibt es auf deinem nächsten Album einen tollen Beat, zu dem alle tanzen …

Tanzen die Leute bei deinen Konzerten, Lisa?

Stoll Ja, ab und zu. Ich arbeite ja auch viel mit Ländlerkapellen zusammen. Meine Projekte sind immer sehr unterschiedlich. Gerade spielte ich mit zwei tschechischen Musikern eine Mischung aus Schweizer und tschechischer Volksmusik mit Klassik – ganz etwas anderes.

Gasser Das nimmt mich jetzt aber doch wunder: Wie ist es, wenn du ein Album produzierst? Bis jetzt hast du ja eine CD herausgegeben, oder? Die es auch im Wilchinger Dorfladen zu kaufen gibt?

Stoll (lacht) Es sind mittlerweile vier.

Gasser Und wie machst du das dann? Sind das eigene Kompositionen, Cover oder Lieder, die du in der Weltfindest und dann abänderst?

Stoll Nein, die meisten meiner Stücke haben die beiden bekannten Volksmusiker Alex Eugster und Carlo Brunner für mich geschrieben – aber sie sind eben sehr volkstümlich.

Gasser Mit dem Alphorn könnte man noch viel mehr ausprobieren, oder? Experimentelle Stücke, die fast schon tranceähnlich sind, zum Beispiel. Es gibt ja keine Grenzen.

Stoll Genau. Das ist auch wieder so ein Klischee – dass man mit dem Alphorn nur eine gewisse Art Musik machen kann. Ich mische an Konzerten immer auch gerne andere Stile mit hinein: Swing, Blues oder Pop. Die Leute sind dann immer ganz erstaunt, dass man mit dem Alphorn auch solche Dinge spielen kann. Aus diesem Klischee möchte ich das Alphorn gerne herausholen.

Giulia Gasser: «Es ist ja nicht so, dass alternative Musik den Massen nicht gefallen kann. Viele wissen einfach kaum über die Szene Bescheid.»

Macht es einen Unterschied in der Wahrnehmung der Szene, ob man selber Musik macht oder sich «nur» gut damit auskennt?

Gasser Also, manchmal mache ich selber ja auch Musik, um den Kopf durchzulüften, aber darauf gehe ich jetzt nicht weiter ein (lacht). Viele meiner Freunde sind Musiker, deshalb bin ich jeweils ganz nahe am Geschehen. Das ist immer wieder faszinierend. Was ich in der alternativen Szene geniesse, ist diese Nähe: Man kommt ins Gespräch mit den Bands, es gibt keine wirkliche Abgrenzung zwischen Bühne und Publikum, man lernt Leute aus der ganzen Welt kennen, es findet ein Austausch statt. In der kommerziell orientierten Musik ist die Distanz sicherlich grösser. Als Kind war ich ein riesiger Beyoncé-Fan, sie war mehr Gottheit als Mensch für mich, weil ich ja niemals an diese Person herangekommen wäre.

Stoll Was Giulia sagt, klingt ähnlich, wie ich es empfinde. Man fühlt mit, ist mittendrin. Die Volksmusik ist ebenfalls eine sehr persönliche Szene. Als Musikerin kann ich mit den Leuten einen direkten Draht aufbauen während des Auftritts, kann sie abholen und mitziehen. An einem Volksmusikfest ist es also ganz normal, dass man sich zu den Leuten setzt und mit ihnen spricht – noch ein Unterschied zum Schlager. Ich könnte nach den Auftritten natürlich auch einfach gehen, aber so fände man keinen Halt in der Szene. Ohne Publikumsnähe geht es nicht, deshalb erzähle ich auf der Bühne jeweils eine Geschichte zu den Stücken. Die Leute wollen einen persönlichen Bezug.

Welche waren denn deine Helden der Kindheit, Lisa?

Stoll Ich hörte so ziemlich alles, gerne auch die CDs meiner Eltern: ABBA mochte ich sehr, oder auch Louis Armstrong.

Gasser Als Teenager will man aber doch vor allem beliebt sein und Freunde haben, also macht man Dinge, die im Trend sind. Als Jugendliche brannte ich immer Mixtapes – die Charthits, gemischt mit Songs von meinem Vater, die ich gut fand. Oder auch mal was von DJ Antoine, das hörten schliesslich die älteren Jungs, das musste also cool sein. Und irgendwann kommt die rebellische Phase, und man will ganz anders sein. Bei mir war es die alternative Musik – ja nichts Elektronisches, nur noch mit richtigen Instrumenten. Heute habe ich diese Denkweise total abgelegt, ich bin offen für alles. Ich glaube, man braucht ein gewisses Selbstbewusstsein, um zu dem zu stehen, was man wirklich mag. Und heute stehe ich zu meinen «Guilty Pleasures».

Stoll Es ist schon ein grosser Schritt, so mutig zu sein und etwas komplett Neues zu probieren. Das Besondere an meiner Situation ist ja vor allem, dass ich mit zehn Jahren begonnen habe, Alphorn zu spielen. Damit war ich natürlich die Einzige in meiner Klasse, die sich für Volksmusik interessierte. Ich machte mir aber nicht viele Gedanken darüber, es gefiel mir eben. Klar gab es manchmal dumme Sprüche, gerade wenn ich die Tracht getragen habe. Gleichzeitig kamen aber der Erfolg und die Unterstützung von verschiedenen Seiten, das motivierte mich zum Weitermachen.

Letzte Frage: Welches Konzert besucht ihr als nächstes?

Gasser Die Konzerte am «Pool Rules», also quasi unsere eigenen. Ich freue mich sehr auf die drei Tage und die Bands, die auftreten werden. Am Donnerstag spielt zum Beispiel «MoreEats» aus Zürich, ein Freund von mir. Und es gibt einen Überraschungs-Act … Übernächstes Wochenende gehe ich dann ans «Berlin Atonal», ein Festival für experimentelle Musik. Das wird auch spannend.

Stoll Bei mir ist es etwas ganz anderes! (lacht) Ich gehe zu den «Fäaschtbänkler», eine Partyband aus dem Sankt Galler Rheintal. Die Band macht eine neue CD und hat mich gefragt, ob ich als Gastmusikerin mitmachen will. Sie covert Pop- und Rocksongs, aber in klassischer Oberkrainer Blasmusik-Besetzung – es ist also sozusagen ein Freundschaftsbesuch.