Das Theater als Labor

27. Juli 2017, Andrina Wanner

Wer sich in der Schaffhauser Theaterwelt ausprobieren will, kommt um Jürg Schneckenburger nicht herum. Der Regisseur und Theaterpädagoge ist geschätzt und gefürchtet, weil er seine Ideen mit grossem Ernst verfolgt und dabei auch mal den Chef spielt. Wen das stört, darf ihm das aber ruhig sagen.

Man kennt ihn aus Musikdramen oder Tanzfilmen: den fordernden Lehrer, der im Augenblick unerbittlich scheint, aber eigentlich nur das Beste für seine Schützlinge will. Jürg Schneckenburger als strenger, aber fairer Mentor, der immer schon einen Schritt weiterdenkt? Im Kleinen vielleicht. Sein Arbeitsfeld ist nicht die grosse professionelle Theaterbühne, sondern die Theaterpädagogik, die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen (unter anderem im «jugendclub momoll Theater») und Amateurdarstellern. Ein Labor, in dem viel ausprobiert und entdeckt werden kann. Denn Jürg Schneckenburger ist vor allem neugierig: «Während ich inszeniere, probiere ich laufend Dinge aus – in der ganzen Konzeption liegt eine grosse Lust, eine Spielerei, ein Experimentieren zusammen mit den Darstellern. Eigentlich ist meine Arbeit Forschung: Ich weiss nie von Anfang an, wie sich ein Projekt entwickeln wird.» Es ist eine Grundhaltung: Man erforscht die Geschichte, die man erzählen will, erforscht sich selber und das eigene Sein in der Welt – nicht didaktisch, sondern voller Neugierde. Das habe wohl mit ihm als Mensch zu tun: «Ich bin eher zirkulär in meinem Spiel, also nicht assoziativ, und drehe oftmals Runden um ein bestimmtes Thema, um es aus möglichst vielen Blickwinkeln zu betrachten – bis ich es besser verstehe und irgendwann festlegen kann: So machen wir es.»

Schwächen zu Stärken machen

Als Jugendlicher erwachte in Jürg Schneckenburger die Liebe zum Theater. Er, der mit dem Beruf eines Profisportlers geliebäugelt hatte, merkte, dass er auf der Bühne auch mit seinen Schwächen stark sein konnte. Das klingt pathetisch, gehört aber seither zu seiner Philosophie als Regisseur: «Wenn du jemanden hast, der dich geschickt führt, findet er für dich eine Aufgabe, die du gut machen wirst.» Sobald man realisiert, dass die Bühne ein Raum ist, in dem man sich nicht verstellen muss, ist man frei. Diese Erfahrung nahm er mit in seine spätere Arbeit als Theaterpädagoge. Eigentlich klingt es paradox: Ein guter Schauspieler ist gerade auf der Bühne und gerade in seiner Rolle am meisten sich selbst. Schneckenburger verdeutlicht es: «Die Rolle wird besser, je mehr man bei sich selber ist – wer das begriffen hat, gewinnt eine grosse Freiheit, davon bin ich überzeugt.» Das ist es, was den Regisseur interessiert: die Entwicklung, die Verwandlung und eine möglichst grosse Verbindung zwischen den Leuten und dem, was sie machen.

Fordern, aber nicht überfordern

Nach seiner Ausbildung zum Primarlehrer realisierte Schneckenburger neben seiner Arbeit immer wieder Theaterprojekte mit Kindern und Jugendlichen, aus einer pädagogischen Haltung heraus: «Was ich als positiv empfunden habe, sollten auch andere erleben können.» Ende der Achtzigerjahre wurde er dazu ermuntert, doch Theaterpädagogik zu studieren: «Ich hatte auch über ein Schauspielstudium nachgedacht, merkte aber bald, dass ich dafür nicht geeignet war. Ich bin ein langsamer Mensch, gut im Improvisieren, nicht aber im Reproduzieren – ich schaue lieber anderen beim Spielen zu.»

Andere, die seine Ideen wiedergeben. Verknüpft mit der Sehnsucht, dass das, was sich der Regisseur ausgedacht hat, sich mit dem Menschen, der es umsetzt, vereint. «Am Schluss soll das Gefühl entstehen, dass sich alles verbindet.» Dies zu erreichen, erfordert Arbeit. Mit seinen Darstellern geht der 55-Jährige an deren (und seine) Leistungsgrenzen: «Ich darf die Leute nicht unterschätzen, sondern muss eine gute Obergrenze finden, die sie auch erreichen können – sie sollen sich gefordert fühlen, aber nicht überfordert.»

Und Schneckenburger fordert viel – aber das wussten die meisten Mitglieder des aktuellen Sommertheater-Ensembles schon vorher. Sie kennen und schätzen Schneckenburgers Arbeitsweise, so dass potentielle Spannungen gar nicht erst entstehen konnten und von Anfang an konzentriert und zielgerichtet gearbeitet wurde. Seines Rufs als Regisseur ist sich Jürg Schneckenburger bewusst. Und auch, dass es sicherlich Leute gab, die seinetwegen auf eine Teilnahme am diesjährigen Sommertheater verzichtet haben.

Dazu müsse man verstehen, dass auch er als Regisseur eine Rolle spiele: «Es ist wichtig, dass die Darsteller den Rollenwechsel, den ich durchmache, nachvollziehen können. Dass ich manchmal den Chef raushängen muss, zum Beispiel. Ich mache das bewusst.» Nicht alle könnten dies sofort richtig einordnen. «Allem Anschein nach wirke ich manchmal äusserst autoritär, was ich gar nicht will. Doch wenn ich mich sehr konzentriere, wirke ich wohl manchmal unheimlich unangenehm – wird mir gesagt.»

Das sei aber kein bewusster Vorgang oder etwas, auf das er stolz wäre, betont Schneckenburger, meistens sei er in diesen Momenten nicht aggressiv, sondern einfach überkonzentriert, vielleicht auch überfordert: «Ich muss mich jeweils sehr konzentrieren, um zu merken, wo ich gerade stehe – wirklich dort, wo ich sein will?» Schneckenburger weiss um diese Wirkung: «Einige denken es wohl immer wieder: Warum ist dieser Typ bloss wieder so streng? Aber der Punkt ist, dass man mit mir darüber reden kann.»

Trotzdem: Jürg Schneckenburger ist niemand, der seine Meinung allem und jedem aufdrücken will: «Der Dialog ist mir wichtig geworden. Ich suche vermehrt den Austausch, stelle auch mal zurück, ohne in eine Beliebigkeit zu kommen. Es gibt Entscheidungen, die gefällt werden müssen – nicht endgültig, aber um zu sehen, ob sie funktionieren oder nicht.» Denn am Ende müsse der Gesamteindruck stimmen. Aber wenn jemand mitdenke in dem, was er zeige, sei das für die Zuschauer sehr spannend. Es gehe auch darum, wie viel jemand von sich preisgeben will – wenn Kopf und Körper sagten, bis hierher und nicht weiter, habe kein Regisseur das Recht, ihn oder sie in eine Richtung zu zwingen.

Dieser Wandel ist nicht nur ihm aufgefallen: Der Dramaturg und Autor Andri Beyeler, ebenfalls Teil der Sommertheater-Crew, kennt Schneckenburger seit vielen Jahren und arbeitet immer wieder mit ihm zusammen: Der Regisseur sei gelassener geworden, ohne seine Ernsthaftigkeit verloren zu haben, so Beyeler. In ihrer Arbeitsweise gleichen sich die beiden Theatermenschen: «Wir sind beide keine Hau-drauf-Typen, sondern gehen eine Sache mit Sorgfalt an und prüfen sie lieber zweimal.» An manch einem Satz wird so lange gefeilt, bis er überzeugt. Ein Ungefähr gibt es nicht.

Die Neugierde spielt mit

Seiner Philosophie ist Jürg Schneckenburger, der neben seinen Theaterprojekten heute auch dreissig Prozent an der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen arbeitet, immer treu geblieben. In der Theaterbranche gilt oft die Devise «Ganz oder gar nicht» – um wirklich Erfolg zu haben, muss man entweder hochtalentiert oder sehr selbstbewusst sein. Er sei beides nicht, sagt Schneckenburger, sondern vor allem ein guter Theaterhandwerker. Einer, der jeweils eine solide Grundlage vorbereitet, damit man in dem Moment, wenn es auf die Bühne geht, nicht mehr am Text herumschrauben muss, sondern ganz der Spiellust nachgehen kann. Und hier kommt wieder die Neugierde ins Spiel: «Meistens verstehe ich den Grund, warum ein Stück überhaupt in Angriff genommen wurde, erst, wenn es abgeschlossen ist.»

So auch bei der aktuellen Sommertheater-Produktion. Dass es die «Farm der Tiere» werden würde, war schon vor Fake News, der Wahl Trumps und dem Putschversuch in der Türkei entschieden – aus ganz pragmatischen Gründen wie dem Ort und der Zusammensetzung des Ensembles. «Es ist seltsam, wie das Stück nun wieder eine sehr heftige Aktualität erhalten hat», so Schneckenburger. Eine Parabel als archaisches Abbild einer Grundsituation, die alle kennen. Denn die Mechanismen, die in George Orwells Roman aus dem Jahr 1945 (!) greifen, finden sich sowohl in der Weltgeschichte als auch in den meisten Privatleben wieder. Wo die Assoziationen der Zuschauenden schliesslich hingehen, soll nicht vorbestimmt werden.

Die Premiere des Schaffhauser Sommertheaters «Farm der Tiere» findet am Donnerstag, 27. Juli, um 20.30 Uhr statt. Der Spielort befindet sich bei der alten Sternwarte  (Schulhausplatz Steig). Gespielt wird bis 19. August jeweils mittwochs bis sonntags. Die Theaterbeiz ist ab 18 Uhr und nach den Vorstellungen offen. Alle Infos und Tickets gibt es unter www.sommertheater.ch oder bei Schaffhauserland Tourismus.