Kaltblütig

22. Juni 2017, Romina Loliva
Zeichnung: Romina Loliva
Zeichnung: Romina Loliva

Nach 49 Messerstichen sackt der tote Vater in sich zusammen. Der Schwiegersohn lebt nur wenige Minuten länger. Die Mutter und die Tochter werden daraufhin in Haft genommen. Anderthalb Jahre später steht die Tochter vor Gericht. Sie soll den Vater erstochen haben – Eindrücke aus einem Mordprozess.

Für R.B. kommt der Tod an einem kalten Dezemberabend. 49 Mal sticht das Messer in seinen Rücken. Es zerfleddert sein T-Shirt, schneidet durch das Fleisch, tief bis zur Wirbelsäule, immer und immer wieder.

Als die Klinge nicht mehr zu gebrauchen ist, völlig verbogen, muss ein anderes Messer her. Dieses trifft irgendwann die Halsschlagader und durchtrennt sie. Vor ihm steht K.D., sein Schwiegersohn. Auch er in einer Blutlache, die Minute für Minute grösser wird. Zwei tiefe Stichwunden klaffen in seinem Brustkorb. R.B., der sich immer noch aufrecht halten kann, verliert sehr viel Blut. Die verletzten Halsschlagadern können das Gehirn des Mannes nicht mehr versorgen. Der 56-Jährige sackt in sich zusammen und bewegt sich nicht mehr. K.D. schleppt sich zur Toilette. Das Messer, das er R.B. im Kampf abnehmen konnte, fällt ins Lavabo. K.D.s Kreislauf bricht dann auch zusammen, der 26-Jährige geht zu Boden und bleibt liegen.

Als etwas später die Blaulichter die Strasse erhellen, ist R.B. schon tot, sein Schwiegersohn stirbt gerade.

Anderthalb Jahre später bohrt sich die Hitze durch die hölzerne Täfelung des Kantonsratssaal. Die Fenster sind geschlossen, die Storen nach unten gezogen. Der schwere runde Kronleuchter taucht den Raum in ein kühles, schummriges Licht. Eine der Neonröhren hat einen Wackelkontakt. Die Lampe flackert, an und aus, an und aus.

Abgebrüht

Eine junge Frau wird von der Polizei in den Saal begleitet. Ihre schulterlangen schwarzen Haare fallen sanft herunter. Das Gesicht der 27-Jährigen ist blass, fast bläulich, tiefe dunkle Ringe umranden ihre Augen. Beim Gehen blickt sie nach unten und macht kleine Schritte. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet. Ihre Kleider sind elegant, wirken seriös, aber eine Spur zu jugendlich. Seit 552 Tagen sitzt sie im kantonalen Gefängnis in Untersuchungshaft. Ihr Tag beginnt mit Brot, manchmal etwas Konfitüre, dann nimmt sie ihre Medikamente. Das Mittagessen lässt sie aus, um 17.30 isst sie dann wieder etwas und schluckt weitere Pillen. Dazwischen kommt manchmal der Gefängnisseelsorger vorbei, ab und zu eine Freiwillige, die die Inhaftierten besucht. Ansonsten sitzt die junge Frau in ihrer Zelle, alleine, und wartet auf den heutigen Tag.

Ihre Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Sie setzt sich hin, neben ihr eine wachsame Polizistin. Sobald man ihr die Handschellen abnimmt, dreht C.D. sich um, streckt die Hand aus und begrüsst die Anwälte, die eine Reihe hinter ihr Platz genommen haben. Links ihr Verteidiger Christoph Storrer, rechts der Mann, der sie für lange Zeit hinter Gitter bringen will, Staatsanwalt Peter Sticher.

Vorne, etwas erhöht, sitzen Gerichtspräsident Markus Kübler und die Kantonsrichterinnen Eva Bengtsson und Andrea Berger-Fehr. Sie blicken in den Saal, ihre Mienen sind fast versteinert. Auf der Richterbank türmen sich Akten und Ordner zu kleinen und grösseren Haufen auf. In die hinteren Reihen setzen sich nach und nach die Journalistinnen und Journalisten. Radio, Fernsehen, Tages- und Wochenzeitungen, Onlineportale, sie sind alle da. Weiter hinten und auf der Galerie haben sich Angehörige und Publikum versammelt. Man wartet gespannt auf den Beginn des Prozesses, der mehrere Tage dauern wird.

Nur eine Frau, sie sitzt links vom Verteidiger, hinter der jungen Beschuldigten, scheint sich nicht gross für die Verhandlung zu interessieren. M.B. richtet den Blick nach unten und zittert merklich am ganzen Körper. Ihr Gesicht ist ausgemergelt und fahl. Durch ihre gebückte Haltung berührt sie fast den Tisch. Vor ihr steht ein Pappbecher, daraus trinkt sie in kleinen Schlucken. Dann macht sie die Augen wieder zu, sieht leidend und kränklich aus.

Die Frau, die heute vor Gericht steht, ist ihre Tochter. Und diese wird beschuldigt, an jenem kalten Dezemberabend ihren Vater, den Ehemann von M.B. ermordet zu haben. Mit 49 Messerstichen.

Als sich das Familiendrama im Jahr 2015 ereignete, wusste man nur: Die zwei Männer sind tot, die zwei Frauen, die sich während dem Kampf zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn in der Wohnung aufhielten, wurden verhaftet. Später kam die Mutter M.B. frei. Der Verdacht, dass die Tochter mit dem Tod der beiden Männer zu tun haben könnte, hielt sich bereits vor der Anklageerhebung hartnäckig. Seitdem kreist im Fall des «Doppelmordes von Hemmental» alles um C.D. Hat sie ihren Vater von hinten, als ihr Ehemann K.D. ihn festhielt, «abgeschlachtet», wie die Staatsanwaltschaft behauptet? Oder war sie weitgehend unbeteiligt und die zwei Männer haben sich gegenseitig niedergemetzelt? Und welche Rolle spielte die Mutter, M.B.?
Der Staatsanwalt ist überzeugt: «Wer so heftig zusticht, will töten.» Der Angriff von C.D. auf R.B. sei äusserst skrupellos und kaltblütig gewesen, weshalb die Tat als Mord zu qualifizieren sei.

Skrupellos
Während seiner Ausführungen beschreibt er die 27-Jährige als eine berechnende, manipulierende Lügnerin. Unbequeme Details des Lebens von C.D. kommen zum Vorschein. Die Ehe mit K.D. ist ihre zweite. Sie ist Mutter eines Kindes, das in einer Pflegefamilie lebt. K.D., den sie seit der Schule kannte, ist sie in der Psychiatrie näher gekommen. Die Heirat fand nur drei Monate nach der Scheidung von ihrem ersten Mann statt. Ein Ex-Freund habe ihr über Jahre tausend Franken im Monat überwiesen, um Ruhe zu haben, sie hat mehrere Ausbildungen angefangen und wieder abgebrochen. Vor der Tat war sie über eine längere Zeit arbeitslos. In den Medien tauchen Bilder von C.D. auf, auf welchen sie mit Sturmgewehren posiert, anonyme Quellen beschreiben sie als «Monster», «Mafia-Boss», eine Frau, die schon in jungen Jahren «Angst und Schrecken» verbreitet habe. Eine Frau, die durchaus fähig wäre, einen Menschen, auch den eigenen Vater, brutal zu ermorden.

Im Gerichtssaal antwortet die Beschuldigte auf jede Frage des Gerichts. Meistens ist sie beherrscht, ruhig, hat immer eine Erklärung bereit. Hin und wieder, besonders wenn es um ihre Familie geht, klingt ihre Stimme gequält und flehend, stumme Tränen fliessen über ihr Gesicht. Ihre Version der Geschichte ist eine ganz andere, eine naive, und eine, die sie im Laufe der Ermittlungen mehrere Male abgeändert hat. Ein Teilgeständnis, das sie im Frühjahr 2016 abgelegt hatte, widerrief sie später wieder. Nur Taktik und Schutzbehauptungen, meint der Staatsanwalt. Warum sie den Vater ermordet haben soll, bleibt jedoch unklar. Die Staatsanwaltschaft kann nur Vermutungen anstellen. Vielleicht waren die jungen Eheleute gekränkt, dass die Eltern ihre Verbindung missbilligten. Vielleicht eskalierte die Situation, als C.D. erkannt hatte, dass ihr Vater ihren Ehemann stark verletzt hatte. Nur die 27-Jährige kennt die ganze Wahrheit und sie betont eisern: «Ich habe meinen Vater nicht getötet.»

Sie beschreibt eine zerrüttete Familie, eine alkoholkranke Mutter, die den Vater über Jahre drangsaliert habe, immer respektloser, gewalttätiger und egoistischer wurde. Sich selbst sieht die Beschuldigte als liebende und besorgte Tochter mit einem innigen Verhältnis zum Vater: Gemeinsame Ausflüge, Ferien auf einem Boot in Irland, Kinoabende, alles um der tyrannischen Mutter zu entfliehen.

Zärtlich
K.D. sei ihre erste Liebe gewesen, schon in der Schulzeit habe sie sich in ihn verliebt. Überall habe sie ihn gesucht, sogar in der Psychiatrie, und dort dann auch gefunden. Die zwei hätten Hals über Kopf geheiratet, eine sehr intensive Ehe geführt: Er der grosse Beschützer, der alles für seine Frau getan hätte, sie die zärtliche Ehefrau. Das Messer, das K.D. mitführte, habe der junge Mann nur dabei gehabt, um ihr Äpfel zu schneiden. Die Handfesseln, die C.D. dann in Hemmental benutzte, um ihre Mutter festzuhalten, hätten die zwei Liebenden in Paris aus Jux gekauft, um aneinander gekettet durch die Strassen zu laufen. Sie hätte nicht gewollt, dass die zwei Männer, die bereits aneinander geraten waren, erneut aufeinandertreffen, darum all die Lügen, sie hätte zuhause nur ihre Sachen abholen wollen.

Währenddessen sitzt die Mutter immer noch hinter der Tochter. Sie, mittlerweile als Privatklägerin im Verfahren involviert, sagt vor Gericht nichts. Sie wird auch nicht gefragt. Ihre Anwältin trägt ihre Forderung nach Schadenersatz und Genugtuung vor, M.B. verlangt fast 100’000 Franken von ihrer Tochter. Die Anwältin listet minutiös alle Positionen auf, summiert die Beträge, zitiert aus den Gesetzbüchern. Absurd, aber folgerichtig. Es geht schliesslich auch um Geld. M.B. lässt dem Gericht und indirekt auch ihrem Kind ausrichten, sie liebe ihre Tochter, aber diese müsse für ihre Taten bestraft werden.

Ist die Mutter so, wie ihre Tochter sie beschreibt? Süchtig, bösartig und herrisch? Hat sie vielleicht – wie es die Verteidigung als möglichen Tathergang sieht – selbst auch zum Messer gegriffen, K.D. verletzt und die Tatwaffe dann verschwinden lassen?

Unschuldig
Die Behauptungen des Verteidigers hallen im Saal nach: «C.D. hat sich in der Haft eingebildet, den Vater ermordet zu haben, weil sie sich die Schuld gibt.»
Während fünf Stunden appelliert er an das Gericht, nicht vorschnell zu urteilen, die Mutter nicht zu unterschätzen, die eine hochintelligente Person sei, die nüchtern genau wisse, was sie tue. M.B. zittert, bewegt sich aber äusserst langsam, fast mechanisch. Sie scheint abwesend, teilnahmslos. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Immer wieder, bei Details, als ihr Verhältnis zum Ehemann beschrieben wird oder als die Verteidigung ihre Beteiligung am Kampfgeschehen ins Spiel bringt, erwacht M.B. Plötzlich, aber nur für kurze Zeit, blickt sie nach vorne zu ihrer Tochter, schüttelt den Kopf oder nickt langsam. Auch ihr laufen die Tränen über die eingefallenen Wangen. Auf dem Tisch liegt ein Foto, darauf sieht man von weitem das Ehepaar B. auf einem Sofa. Sie lachen einander zu. M.B. streicht sanft über das Foto und sinkt wieder in sich hinein.

Nur wenige Meter nebenan beteuert die Verteidigung weiter die Unschuld der Tochter. Der Tathergang sei nicht gänzlich nachvollziehbar, es gebe nur Indizien, die man so, aber auch anders auslegen könne. Es bestehe berechtigter Zweifel an der Version der Staatsanwaltschaft und nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» müsse das Gericht die Beschuldigte freisprechen. C.D. sei nicht die Vatermörderin, zu welcher man sie nun machen wolle.

Mörderisch
Bei der Urteilseröffnung am vergangenen Montag bestätigt sich dann, was schon während der ganzen Verhandlung spürbar war: Das Gericht glaubt C.D. nicht. Der Gerichtspräsident Markus Kübler drückt es so aus: «Die Beschuldigte darf lügen, um sich nicht zu belasten, darf aber nicht erwarten, dass das Gericht ihre Lügen glaubt.» Die forensischen Untersuchungen hätten zwar keine lückenlose Beweiskette ergeben, aber genügend Indizien für eine Verurteilung geliefert.
«Einiges liegt in vollkommener Dunkelheit, einiges im Halbschatten, aber manches auch im Scheinwerferlicht», meint Kübler. Das Urteil lautet: sechzehneinhalb Jahre Gefängnis, unbedingt.

Die Verteidigung will den Fall an das Obergericht weiterziehen. Ob dieses den Entscheid des Kantonsgerichts ­umstossen wird, ist sehr ungewiss. C.D.s Schicksal scheint besiegelt. Und sie weiss es. Mit Fassung, fast gleichgültig nimmt sie das Urteil zur Kenntnis. Sie steht auf, legt die Hände hinter den Rücken, die Handschellen klicken ins Schloss. Die Polizisten begleiten sie hinaus. Als sie an ihrer Mutter vorbeiläuft, hebt M.B. den Kopf und schaut ihrer Tochter nach. Sie dreht sich aber nicht um.