Charlie Zürcher bekämpft mit dem IKRK die humanitäre Katastrophe im Südsudan. Es ist die erste Mission der 29-Jährigen. Ein Gespräch über Todesangst und Freudentränen.
Am letzten Freitag flog sie wieder zurück. Zurück in den vom Bürgerkrieg geplagten Südsudan. Charlie Zürcher, eine energische Frohnatur von 29 Jahren, versucht dort im Auftrag des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) eine humanitäre Katastrophe abzuwenden.
Zuvor weilte sie ein paar Tage in Schaffhausen, Erholung bei ihren Eltern. Viel gewandert sei sie in diesen Tagen, meint Zürcher, denn im Südsudan ist ihr das strengstens verboten. Zu gefährlich.
Zürcher studierte Ethnologie und Entwicklungsstudien in Zürich und Genf. Anschliessend arbeitete sie in Holland, Ägypten und Mozambique, unter anderem für die UNO und die Schweizer Botschaft. Im November 2016 flog sie in den Südsudan, befristet für ein Jahr. Danach wird sie eine neue IKRK-Mission übernehmen.
az Charlie Zürcher, warum reisten Sie bei Ihrem ersten Rot-Kreuz-Einsatz gleich in den Südsudan, in eines der gefährlichsten Länder überhaupt?
Charlie Zürcher Das entschied das IKRK. Es war aber eines meiner geheimen Wunschziele.
Tatsächlich?
Ja. Zu Beginn meines Ethnologie-Studiums las ich das Buch «The Nuer». Ein ziemlich altes Werk, 1940 erschienen, aber faszinierend. Die Nuer sind das zweitgrösste Volk im Südsudan, sie leben sehr traditionell. Das wollte ich unbedingt vor Ort erleben. Und dann kam 2011 die Unabhängigkeit des Landes, auch diese Entwicklung interessierte mich.
Das Land ist ein gescheiterter Staat. Mord, Terror, Leid prägen den Alltag. Millionen sind wegen des Bürgerkriegs auf der Flucht. 5,5 Millionen Menschen, die Hälfte der Bevölkerung, leiden an akuter Hungersnot.
Umso mehr brauchen die Menschen Hilfe. Das Internationale Rote Kreuz macht ungemein viel: Wir verteilen Essen, Saatgut, Fischerausrüstungen, machen Impfkampagnen für Menschen und Vieh. Wir helfen Kriegsverletzten und führen Familien wieder zusammen.
Klar, einfach ist es nicht. Vor der Abreise habe ich mich eingelesen und über das Land informiert. Doch nichts bereitet dich darauf vor, wie es wirklich ist.
Wie sieht Ihr Alltag aus?
Es kommt nie so, wie ich es geplant habe. Ich habe einen sehr breiten Aufgabenbereich. Zum Beispiel bin ich für die Sicherheit unseres «Office» in Rumbek zuständig, das im Herzen des Landes liegt – Regierungsgebiet. Ich bin auch Stellvertreterin des Leiters. Und wenn wir einen Feldtrip unternehmen, informiere ich Behörden und Militär. Wir gehen nur raus, wenn sie uns grünes Licht geben. Die Sicherheitsbestimmungen sind sehr strikt. Dann besuche ich auch zwei Gefängnisse, um zu überprüfen, ob die Insassen genug zu essen erhalten, gut behandelt werden und so fort. Zudem bin verantwortlich für den Schutz der Zivilbevölkerung und für Familienzusammenführungen.
Wie reagieren die Behörden auf Ihre Gefängnisbesuche?
Im Grossen und Ganzen mit Respekt.
Wie gehen Sie vor?
Wenn ich sehe, dass etwas nicht richtig läuft, spreche ich die Dinge direkt mit den Behörden an. Es geht nicht darum, die Leute zu befehligen, sondern um den bilateralen Weg. Es kann aber auch sein, dass den Menschen die Mittel fehlen, um etwas zu verbessern. Dann schreiten wir ein. Zum Beispiel haben wir kürzlich ein Ernährungsprojekt lanciert. Dabei messen wir regelmässig den BMI von Gefängnisinsassen. Diejenigen, die unterernährt sind, erhalten eine therapeutische Ernährung zur schnellen Gewichtszunahme.
Wie sieht es in den Gefängnissen aus?
Das darf ich Ihnen leider nicht sagen. Das Internationale Rote Kreuz arbeitet vertraulich.
Gibt es eine Szene, die Ihnen besonders naheging?
Ich konnte die Nachricht eines Kriegsgefangenen an seine Schwester überbringen. Sie dachte, er sei schon lange tot. Und als ich ihr den Brief gab, liefen ihr Tränen über die Wangen. Das hat mich sehr berührt.
«Man sieht 12-jährige Buben,
eine AK47 in der Hand,
die Vieh bewachen»
Wie frei können Sie sich bewegen?
Zu Fuss gehen dürfen wir nicht. Wir fahren immer mit unseren Landcruisern. Und abends um halb sieben ist Sperrstunde. Dann darf ich gar nicht mehr aus dem Haus, wo ich mit fünf anderen internationalen Helfern lebe.
Wenn wir unsere Stadt, Rumbek, verlassen, begleiten uns Fahrer. Wir müssen auch immer in einem Konvoi von mindestens zwei Fahrzeugen unterwegs sein. Aus Sicherheitsgründen – in meinem Zuständigkeitsgebiet sind alle bewaffnet.
Alle?
Die meisten. Das Land ist wirtschaftlich am Boden; die Inflation ist riesig. Und wegen des Bürgerkriegs fallen die Ernten aus. Aus Angst getraut man sich nicht mehr auf die Felder. In meiner Region ist nomadische Tierhaltung die Hauptlebensgrundlage. Traditionell gibt es viele Feindschaften zwischen den Stämmen. Aber auch aus Armut und Hunger kommt es oft zu Überfällen und Viehdiebstählen.
Gibt es viele Tote?
Ja. Denn die Herden werden mit automatischen Waffen verteidigt. So sieht man 12-jährige Buben, eine AK47 in der Hand, die das Vieh bewachen.
Zwei Warlords, Präsident Kiir und sein Rivale Macher, bereichern sich am Elend des Landes. Vor allem am Öl. Beide besitzen riesige Villen in Nairobi, Kenia – nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt.
Dazu darf ich mich nicht äussern …
… aber wie beurteilen Sie die Tatsache, dass das IKRK auf beiden Seiten dieser Kriegsgewinnler steht?
Wir sind neutral, unparteiisch und unabhängig. Wir äussern uns nicht zu den Konflikten. Wir gehen dorthin, wo die Not gross ist. Das wissen beide Konfliktparteien, die Regierung und die oppositionellen Rebellen. Das Internationale Rote Kreuz arbeitet seit 1978 im Sudan; darum kennen und respektieren uns die hohen Militärs. Das IKRK arbeitet vertraulich, deshalb erhalten wir oft als einzige humanitäre Organisation Zugang zu Konfliktherden.
Kennen Sie Lukas Bärfuss’ Roman «100 Tage»?
Nein.
Das Buch zeigt, wie heikel Entwicklungshilfe sein kann: Der Protagonist arbeitet für die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit in Ruanda. Indirekt ermöglichte die Schweiz so den Genozid, indem über Jahrzehnte ein diktatorisches Regime unterstützt wurde.
Wie gesagt: Ich kenne den Roman nicht. Das IKRK jedoch bevorzugt keine Parteien. Die Genfer Konventionen legitimieren unser Handeln. Es geht darum, das Humanitäre Völkerrecht aufrechtzuerhalten, den Opfern eines bewaffneten Konflikts zu helfen. Ohne Hintergedanken.
Andere Hilfsorganisationen im Südsudan werden zum Teil stark behindert.
Ja, das Land gilt als eines der gefährlichsten für humanitäre Organisationen.
Es gab auch Tote.
Mehrmals, ja. Es wurden Konvois überfallen, allerdings keine des IKRK.
«Ich hatte das Gefühl,
die Schüsse werden
direkt neben mir abgefeuert»
Hatten Sie nie Angst um Ihr Leben?
Nicht so konkret.
Nicht so konkret?
Nicht direkt um meine Person.
Das klingt trotzdem nicht gut.
Vor Kurzem wurde bei uns im Office eingebrochen. Unser Chef war weg, also war ich verantwortlich für die ganze Situation. Wir haben die Polizei gerufen, und in der Folge kam es zu Schusswechseln. Unser Haus liegt 50 Meter vom Office entfernt – ich hatte das Gefühl, die Schüsse werden direkt neben mir abgefeuert. Darum haben wir uns in unseren «Safe Room» zurückgezogen.
Ist das ein Bunker?
So in der Art, ja. Mit schusssicheren Metallplatten für die Fenster, Satellitentelefon und Notrationen.
Gewalt ist allgegenwärtig im Südsudan. Gerade auch sexuelle Gewalt gegenüber Frauen. Wie gehen Sie damit um?
Im bewaffneten Konflikt verstösst dies gegen das Humanitäre Völkerrecht. Da gibt es kein Aber. Wir versuchen Konfliktparteien in Trainings vom Humanitärem Völkerrecht zu überzeugen.
Dennoch gelten Vergewaltigungen als legitime Kriegsstrategie.
Leider.
Wie bringen Sie einen bis an die Zähne bewaffneten Offizier davon ab?
Man muss diplomatisch vorgehen und zuerst eine Beziehung aufbauen. Du kannst nicht sagen: «Hallo, ich bin Charlie vom IKRK, das und das darfst du nicht mehr machen.» So läuft das nicht. Es braucht viel Arbeit, viele Besuche, Geduld. Aber klar: Man kann nicht immer nur nett sein. Friede, Freude, Eierkuchen ist nicht das Ziel.
Wir sitzen hier in einem schönen Haus mit grossem Garten. Im Südsudan werden Menschen mit Behinderungen lebendig verbrannt, achtjährige Mädchen vergewaltigt und Knaben kastriert, die daran verbluten. Menschen sperrt man in Frachtcontainer und lässt sie dann in der sengenden Sonne sterben. Ein gewaltiger Kontrast.
Deshalb schätze ich mein riesiges privates Glück umso mehr. Das klingt vielleicht wie ein Klischee, aber es stimmt. Ausserdem: Wir versuchen ja, genau dieses Leid zu lindern.
Frisst einen das nicht auf?
Man muss eine gewisse Distanz einhalten. Ich habe gemerkt, dass ich ziemlich gut damit umgehen kann – wenn ich weiss, dass ich getan habe, was ich konnte. Es hilft aber auch, mit Freunden darüber zu reden. Ich versuche abzuschalten, gerade in den Ferien. Alle sechs Wochen habe ich abwechslungsweise fünf oder neun Tage frei. Dann lasse ich meinen Arbeitscomputer zurück.
Gibt es Bilder, die Sie nicht mehr loslassen?
Nein, zum Glück nicht. Ich habe aber gehört, dass das mit dem Alter kommt. Dass man dann plötzlich schreckliche Bilder aus längst vergangenen Einsätzen sieht. Mal sehen. Ob ich bis zu meiner Pensionierung in Kriegsgebieten arbeiten werde, weiss ich nicht. Sicher aber die nächsten Jahre.
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Grauen ohne Ende: Der Bürgerkrieg im Südsudan
2011 erlangte der Südsudan die Unabhängigkeit vom Sudan. Seitdem scheint alles nur noch schlimmer geworden zu sein. Im jungen Land tobt seit 2013 ein blutiger Bürgerkrieg. Ein Ende ist nicht abzusehen.
Präsident Salva Kiir, ein grobschlächtiger Typ mit Cowboyhut, und seine Sudanesische Volksbefreiungsarmee (SPLA) liefern sich ein erbittertes Duell mit dem Erzrivalen, Riek Machar. Er führt die oppositionellen Rebellen (SPLA-IO) an. Es geht vor allem um Erdöl; besonders der Norden des Landes ist reich an schwarzem Gold. Unter der persönlichen Fehde, die sich inzwischen zu einem ethnischen Konflikt zwischen dem Volk der Dinka und der Nuer erweitert hat, leidet das ganze Land. Seit 2013 sind nach Angaben der UNO mehr als 2,3 Millionen Menschen auf der Flucht. Fast drei Viertel davon sind Kinder. Ausserdem sind 5,5 Millionen Menschen – bei einer Bevölkerung von 12,5 Millionen – akut von Hunger bedroht.
Die internationale Gemeinschaft spielt eine zwiespältige Rolle. Einerseits bekämpfen viele Hilfsorganisationen, darunter auch das Rote Kreuz, die humanitäre Katastrophe. Andererseits fliesst ein Grossteil des Öls und damit auch des Geldes ins Ausland (98 Prozent der Einnahmen verdankt der Südsudan staatlichen Erdölbeteiligungen). Österreich, China, Malaysia oder Kanada besitzen grosse Erdölkonzessionen. Zudem ist im Dezember 2016 ein Waffenembargo im UN-Sicherheitsrat gescheitert; China und Russland hatten ihr Veto eingelegt. (kb.)