Bei Merishausen, direkt an der deutschen Grenze, ist ein schwarzes Schaf spurlos verschwunden. Wurde es gerissen? Wurde es geschächtet? Hat die SVP es ausgeschafft? Eine Spurensuche auf Dorf und Weide.
Ein paar Wolken, eine Wiese mit einigen Schafen, daneben ein Wäldchen, reicher Blattbestand, es muss später Frühling sein. So weit, so idyllisch. Doch der Schein trügt. Aus der kleinen Herde ist eines spurlos verschwunden. Ein Schaf, das es «gar nicht geben dürfte». Eines mit einer «merkwürdigen Markierung auf dem Fell».
Wir befinden uns in Haruki Murakamis Japan der späten 70er-Jahre, das er im Roman «Wilde Schafsjagd» skizziert. Irgendwo in den Bergen Hokkaidos. Und das verschollene Schaf ist nicht irgendein Schaf; es verfügt über Superkräfte, es bestimmt den Lauf der Dinge, könnte die Welt aus der Bahn werfen.
Hier, so viel ist sicher, steht einiges auf dem Spiel.
Ein Grund, hellhörig zu werden angesichts einer Meldung der Schaffhauser Polizei vom 10. Mai 2017: Ein schwarzes Lamm sei spurlos von einer eingezäunten Schafweide in Merishausen verschwunden. Es habe ein schwarzes Fell mit einem weissen Punkt auf der Stirn. 35 Kilogramm sei es schwer. Die Marke im linken Ohr laute auf die Nummer 17441358.
Ein schwarzes Schaf mit «merkwürdiger Markierung auf dem Fell» ist nicht mehr da. Ein schwarzes Schaf, das es gemäss 52,9 Prozent der Schweizer Stimmbevölkerung «gar nicht geben dürfte», verschwindet wenige hundert Meter von der deutschen Grenze.
Wenige Stunden nach Publikation der Polizeimeldung schrien die Wutbürger auf Facebook «Muslime!» und «Asylantenheim!».
Auch hier, so viel ist sicher, steht einiges auf dem Spiel.
Nachfragen bei der Schaffhauser Polizei bleiben unergiebig. Sie gibt sich wegen «laufender Untersuchungen» wenig auskunftsfreudig. Sie sagt, es seien «einige Hinweise aus der Bevölkerung» eingegangen. Kontakt zum Besitzer des Schafes will sie keinen vermitteln, er wolle nicht mit Journalisten sprechen. Selbst nationale Medien seien bereits abgeblitzt. Doch auch drei Wochen nach dem Verschwinden tappt die Polizei im Dunkeln.
Das klingt alles ziemlich mysteriös. Also hat die «az» beschlossen, die Polizei zu unterstützen und selbst einen Reporter auf wilde Schafsjagd zu schicken.
Die Recherche beginnt am Computer: 17441358 – die ISSN-Nummer führt zu einer wissenschaftlichen Publikation: «Essays in Biochemistry». Biochemie. Ganz klar: hier riecht es nach Verschwörung, nach gefährlicher Strahlung, nach Klimalüge. Eine heisse Spur.
Zur Sicherheit schmiere ich Sonnencrème auf die Nase und stecke ein Säckchen Jodsalz ein. Es soll einerseits vor Radioaktivität schützen, andererseits helfen, das schwarze Schaf zurück zur Herde zu manövrieren – sofern ich es denn finde.
«Än Jugo oder so …»
Zuerst will ich den Tatort finden, mich umschauen, so haben es auch die grossen des Fachs, Maigret, Poirot, Marlowe, Holmes getan. Der Tatort sei «unweit des Ferienheimes Büttenhardt», besagt die Polizeimeldung. Dort angekommen: Pferdeweiden, Gebäude, einige im Rohbau, zwei Männer schneiden Bretter zu. Der eine schreit: Was wollt ihr? Beat Mader, Büezercap, tätowierte Unterarme. Er ist hier der Chef, führt das Ferienheim, betreut schwer erziehbare Jugendliche, und – ihm gehören die Schafe.
Wie das Schwarze denn geheissen habe? «Pah, Gisela vilicht. Ich mach doch kei Cabaret wegeme huere Schof!» Beat Mader, Kämpfertyp. Fotografieren lassen will er sich nicht, er sei genug in den Medien gewesen die letzten Wochen. Prominenter Windradgegner. Von ungefähr kommt das nicht. Einige Schritte neben seinem Ferienheim steht der Grenzstein, wenige Schritte weiter drei Kolosse von Windrädern. «Bald hender au so eis im Garte!» Das Ja zur Energiestrategie vom Vortag ist noch nicht verdaut.
Aber zurück zu Schaf Gisela: Was denn seiner Meinung nach passiert sei? «Da hät eine gholt, wos grad gschlachtet hät. Än Jugo oder so … Än Wolf wür nid eifach eis under de Arm chlämme.» Mitkommen zum Tatort wolle er nicht, aber er weist den Weg.
Vier Abzweigungen weiter: nichts als Äcker, Weizenfelder, Raps und Wiese. Ein paar U-Turns später fährt Walter Werner entgegen. Er habe eine Jagdhütte gleich bei der Herde. «Die Schöf sind guet versteckt, die fint me nid so gschnell.» Und tatsächlich, in einem Hang, zur Strasse von einem Wäldchen getrennt, grasen sie, zwei Dutzend Stück, Engadiner und Texel.
Wer da vorbeikomme? «Fascht nur Wanderer und Velofahrer. D Frau Mesmer, wo do ihren Bienestand het. D Arbeiter, wo vo de Windräder Leitige uf Merishuse leged. Und d Waldarbeiter.» Er könne sich keinen Dieb vorstellen.
Dabei wäre es wohl ziemlich einfach. Ein Lamm à la Gisela, so zeigt es ein kleines Gedankenexperiment, ist schnell geklaut:
Dunkle Nacht, Auto in der Nähe, Solarakku abgehängt, Zaun niedergetreten. Gelockt mit ein wenig Jodsalz aus dem Säckchen springen die neugierig-zutraulichen Schafe wohl ohne Zerren und Stossen in den Kofferraum. Bis auf den Grill ist es dann ein Katzensprung.
Aber eben, dazu muss man wissen, wo man klauen kann. Wars also doch der Wolf?
Werner Stauffacher, Obmann des Jagdreviers Merishausen I, verneint: «Wenns en Wolf oder en Luchs gsi wär, hets ä Massaker gä.» Und wenn Gisela selbst ausgebüxt wäre, hätte man sie bald unweit der Weide wieder aufgefunden.
Der Präsident des Schweizerischen Schafzuchtverbandes, Alwin Meichtry, bestätigt das. Luchs- oder Wolfspuren wären nicht zu übersehen. Dass einzelne Schafe spurlos von der Weide verschwinden, sei «äusserst selten». Er tippe auf einen «hungrigen Zeitgenossen».
Also runter von der Weide, dorthin, wo der gefährlichste aller Räuber lebt.
Pentti Aellig überführt?
Die Verkäuferin im Merishauser Volg: Vermisstes Schaf? Keine Ahnung.
Die Kundin im Volg: Ex-Frau von Beat Mader, kein Kommentar.
Das Lehrerteam beim Zmittag im Restaurant Gemeindehaus, offensichtlich überfragt: Nicht mal auf dem Pausenplatz wurde über das herzige Schäflein geredet.
Die Wirtin: Nichts gehört.
Die Mittagskarte: Nur Poulet, Schwein und Rind.
Der Gemeindepräsident Herbert Werner: Ziemlich aussergewöhnliches Verbrechen, allgemein wenige Tierdiebstähle im Dorf. Ihm ist nichts bekannt
Nur in der exzellent bestückten Hofladen-Fleischauslage finden sich Schaf-Spuren – in Form von vakuumiertem Gigot und Würsten. Aber würde ein frevelnder Fleischräuber seine Beute tatsächlich öffentlich feilbieten?
Und überhaupt, wer kann beweisen, dass Gisela einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist?
Die meisten vermisst Gemeldeten, so belegen es Polizeistatistiken, tauchen wieder auf. Vielleicht im Fall von Gisela ja im grenznahen Deutschland. Vielleicht ist Gisela auch ein politisches Opfer. Der Schaffhauser SVP-Präsident Pentti Aellig will den Fragekatalog der «az» nicht beantworten. Er schreibt, er beschäftige sich als Politiker «schwerpunktmässig nicht mit Schafdiebstahl». Pikant an dieser Aussage: Weder in der Polizeimeldung noch im Fragekatalog wird suggeriert, das Schaf sei gestohlen worden! Die Rede war lediglich vom «vermissten» oder «verschwundenen» Schaf. Weiss Herr Aellig da etwas, was selbst die Polizei nicht weiss?
Wurde Gisela zum Bauernopfer (sic), mit dem die Durchsetzung des Volkswillens zelebriert werden sollte?
Oder sollte man statt in Murakamis Japan viel näher suchen, etwa in der Schweiz von Dürrenmatt? Steckt vielleicht, wie beim Besuch der alten Dame, das ganze, gar so unwissende Dorf unter einer Decke? Wann feiern die Merishauser eigentlich ihre geselligen Dorffeste?
Fragen über Fragen. Doch der Redaktionsschluss rückt näher. Also übergebe ich meine vorläufigen Rechercheergebnisse hiermit schweren Herzens wieder der Schaffhauser Polizei.