Rolf und seine Kerze

23. Mai 2017, Kevin Brühlmann
Jeden Tag kalt duschen, das hält frisch: Rolf Könitzer am Stammtisch seiner Beiz, der «Kerze». Foto: Peter Pfister

Vom Pionier des Berner Mundartpop zum eigenwilligen Beizer: Seit bald 30 Jahren führt Rolf Könitzer die «Kerze». Sie ist mondäner als so mancher Szene-Schuppen. Zu Besuch in einer eigenen Welt.

«Ir letschte Siite im Buech vom Läbe
do schtöh e paar Wort:
Bisch einisch dobe, einisch dunde.»
– aus dem Album «En Ankeschnitte usem Läbe. Bärndütsches vom Rolf-Peter Könitzer» (1972)

Ju, sagt Rolf, ju. Seine Hände hat er ineinandergefaltet; er öffnet seinen Mund und schliesst ihn gleich wieder. Dann, nach einer Pause, sagt er: Ju, mir geht es recht. Er dusche immer kalt, das halte ihn frisch.

Rolf Könitzer ist kein grosser Erzähler. Mit Worten geht er so um, wie andere ihr Geld behandeln: im Zweifelsfall alles unter die Matratze.

Und dann fragt man sich, was wohl in diesem Mann, 70 ist er nun, vorgeht. Seine freundlichen Gesichtszüge erzählen von einem bescheidenen und doch guten Leben. Aus seinen strahlend blauen Augen spricht Herzensgüte, aber auch eine Traurigkeit, deren Tiefe nicht fassbar ist.

2006 ist seine Frau Béatrice gestorben. Sie war seine Seelenverwandte. Mit ihr hatte er die «Kerze» übernommen und fast 20 Jahre lang betrieben; gemeinsam verliehen sie der vormals biederen Beiz einen warmen Charme.

«Ich musste weitermachen», sagt Rolf. Dann schweigt er.

Erzählt seine Beiz nicht genug?

Rauchgegerbtes Holz

«Restaurant Zur Kerze, offen», heisst es an der Stadthausgasse 17: Montag bis Samstag, von 16 Uhr bis Mitternacht, am Wochenende etwas länger. Eine steile, enge Holztreppe führt knarzend in den ersten Stock zur Beiz, vorbei an Zigarettenautomat und Toilette. «Manne» steht da auf einer Tür, «Fraue» auf der anderen. Beide sind immer säuberlich gereinigt. Das Holz, das die «Kerze» von Kopf bis Fuss einkleidet, ist gegerbt von jahrzehnteschwerem Rauch, oft filterlos inhaliert. An den getäferten Wänden hängen zerbeulte Posaunen, Gitarren, Waschbretter, Trommeln und Fotografien. Im kleinen Raum stehen Tische und Stühle aus wuchtiger Handwerkskunst, einfach verglaste Fenster zeigen zur Gasse hin.

Aus den Lautsprechern erklingen Bands, deren Mitglieder nicht selten entweder tot oder längst vergessen sind. Gut sind sie natürlich trotzdem – oder gerade deswegen.

Irgendwann, es muss kurz nach dem Fall der Sowjetunion gewesen sein, ist die Zeit in der «Kerze» stehengeblieben.

Die Leute mögen das, egal, wie alt, ob Schüler oder 86-jährige Rentnerin, und ganz gleich, ob Punk oder Umweltingenieurin. Und wenn man den Rauch im ersten Stock durchschreitet, guckt einen niemand an, als sei man gerade aus einer Anstalt abgehauen. Damit ist die «Kerze» mondäner als die meisten Szene-Schuppen, wo einen die Blicke der Nike-Träger wie Miniaturblitze treffen.

In der Mitte der «Kerze» steht der runde Tisch für die Stammgäste. Hier sitzt Rolf, ein dünner, eher kleiner Mann. Wie immer trägt er Jeans und T-Shirt, das er in die Hose gesteckt hat.

Über seine Gäste redet er wie andere über Familienmitglieder: voller Liebe, nur manchmal milde tadelnd. Denn ab und zu, sagt er, würde sich seine «Kerze»-Familie fast zu gut um ihn kümmern. Er lacht herzlich.

Manche behaupten ja, ohne Rolf würde es die Beiz nicht mehr geben. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt.

Rolf, der Beizer. Dabei könnte es auch heissen: Rolf, der Chansonnier.

Die «Teufelsgitarren»

Der 14-jährige «Röffe» in seinem Elternhaus: Hank Williams als Vorbild (wohl 1960).

Aufgewachsen war Rolf im Berner Mattenquartier, unterhalb des Bundeshauses, gleich an der Aare. Die Eltern besas­sen ein Milchgeschäft. «Röffe», wie man den Sohn rief und heute noch ruft, machte eine Lehre als Handlithograf. Später arbeitete er jedoch nie auf dem Beruf. Rolf zog es zur Musik.

Mit 15 gründete er seine erste Band: die «Teufelsgitarren». Vorbilder waren «The Shadows» aus London. Rolf kaufte sich eine italienische Fender-Kopie. Und dann borgte er den kleinen Radio seiner Eltern aus, der sich irgendwie zu einem Verstärker umfunktionieren liess. Geprobt wurde in der Garderobe eines Fussballklubs. Aufräumen nach dem Krach, so der Abwart, war das höchste Gebot.

«Är isch auä dr Erscht gsi»

«Röffe hat für die Musik gelebt», erinnert sich sein damaliger Bandkollege Willi Grimm. «Er war manchmal ein Einzelgänger, im guten Sinn. Abgesehen von uns hatte er nicht viele Freunde. Die Musik war ihm halt am wichtigsten.»

In der Berufsschule fand Röffe einen Gleichgesinnten. Er hiess Polo Hofer. Dieser mochte den eher einsilbigen Rolf – weil der «gäng e rüdig guete Gitarrischt gsi isch». Zusammen hingen sie in Berner Beizen herum und redeten über Meitschi und Musik. Polo war beeindruckt vom ein Jahr jüngeren Rolf – ist er heute noch: «Är isch jo auä dr Erscht gsi, wo de mit Rockmusig uf Bärndütsch gsunge het.»

Unter dem grossartig unaufgeregten Namen «En Ankeschnitte usem Läbe» veröffentlichte Röffe 1972 sein erstes Album. Untertitel: «Bärndütsches vom Rolf-Peter Könitzer». Es war die erste Berner Mundart-LP überhaupt. Ein Jahr darauf brachte Polo Hofers Gruppe «Rumpelstilz» mit «Warehuus-Blues» ihre erste Single heraus.

Begleitet von schrammeligen Gitarren, manchmal akustisch, manchmal elektrisch, sang Rolf mit verträumter Stimme. Auf Liebeserklärungen folgten Antikriegslieder, auf Streifzüge durch die Natur «die chlyne Bäremutze» im Bärengraben. Die Peace-and-Love-Bewegung der 68er prägte auch Rolf. Und wenn man etwas pathetisch werden möchte: Rolf Könitzer, der Berner Giel aus einfachem Haus, trug in die mehr oder weniger respektablen Spunten seiner Heimatstadt, was Bob Dylan der grossen Welt brachte.

Es hatte nicht sein sollen

2’000 Stück von «En Ankeschnitte usem Läbe» verkaufte der bärtige Rolf Könitzer – respektive seine Plattenfirma. Kurz zuvor hatte er beim Majorlabel EMI unterschrieben. Eigentlich hätte er gross rauskommen sollen. Mit seinem Hit «Geraldine» war ein Auftritt für die Schweiz am Eurovision Song Contest vorgesehen. Allein, kurz vor dem Termin wechselten die Verantwortlichen ihre Meinung; «Geraldine» sei zu kompliziert, argumentierten sie.

Und dann hatte es wohl nicht mehr sein sollen. Warum es nicht geklappt hat mit dem Durchbruch, kann heute niemand mehr sagen. Auch Polo Hofer und Willi Grimm nicht. Jedenfalls: Rolf hatte das Vagabundieren als Musiker bald satt und wechselte in die Welt der Gastronomie.

Anfang der 80er-Jahre landete Rolf in Schaffhausen, im «Domino». Hier lernte er auch Béatrice kennen, seine spätere Frau. Mit ihr eröffnete er 1988 die «Kerze». Geschlossen war die Beiz seither kaum. Selbst nach dem Tod von Béatrice nicht.

Jeden Tag steht Rolf um halb acht auf der Matte, aufräumen, putzen, Besorgungen erledigen. Gäste bedienen um vier, nachschenken, zu den Gästen sitzen, einen oder zwei mittrinken, gegen Mitternacht schliessen, die Leute nach Hause schicken mit dem Satz: «Itz machemer Fiiroobe, gommer emol haame.» Es ist zu einem geflügelten Wort geworden.

Und eigentlich hätte auch Rolf längst einmal selbst Fiiroobe machen können.  Für immer. Das Pensionsalter hat er ja bei Weitem erreicht. Aber aufhören ist nicht. Der Beizer meint: «Ich kann noch gut mithalten, am nächsten Tag habe ich nie Mühe beim Aufstehen.»

Gerade ging das «Kerze»-Musikfestival zu Ende – es war das 28. seiner Art. Die 30 will er noch voll machen; schon jetzt freut er sich aufs Jubiläum. Dann werden es wohl gegen die 600 Konzerte sein, die in der Beiz über die Bühne gingen.

Nur immer mit der Ruhe, sagt Rolf, dann wird das schon, dann erleide man keinen Herzinfarkt.