«Das ist Voodoo-Politik»

28. März 2017, Kevin Brühlmann
AL-Politiker Keller: «Warum wagt die Regierung nichts Grossartiges?» Foto: Peter Pfister

AL-Politiker Florian Keller nimmt sich im «az»-Interview die Schaffhauser Regierung zur Brust.

Die imposante Erscheinung ist wieder da. In der letzten Woche seines Vaterschaftsurlaubs meldet sich Florian Keller (33) zurück. Und wie. Nachdem letzte Woche bekannt geworden war, dass der Kanton 2016 einen gewaltigen Überschuss von 50 Millionen Franken erzielte, findet Keller markige Worte. Schliesslich hatte der AL-Politiker und Unia-Projektleiter die jahrelange Sparpolitik des Schaffhauser Regierungsrates an vorderster Front bekämpft.

az Florian Keller, wie geht es Ihrem Kind?
Florian Keller Meinen Sie die AL?

Nein. Das Bündnis Zukunft Schaffhausen. Man darf Sie ja getrost als «Vater des Widerstands» bezeichnen.
Naja.

Sie haben mit dem Bündnis über 20 Organisationen vereinigt, um gegen das Sparpaket ESH4 zu kämpfen. Also: Wie geht es dem Kind?
Das ist im Prinzip überflüssig geworden. Mit den gewonnenen Abstimmungen im letzten Sommer – gegen die Kürzung der Prämienverbilligung, der Kanti-Freifächer und so weiter – wurde das abgeschlossen. Noch einen letzten Auftritt wird es geben, wenn es zur Abstimmung über die Volksschulinitiative kommt.

Ist das Kind tot?
Nein. Aber das Bündnis war eine Ad-hoc-Gründung. Und keine längerfristige Verbindung. Im Zentrum stand die gemein-same Bekämpfung des Sparpakets – was erfolgreich war. Die Sparmassnahmen, die man bodigen konnte, sind gebodigt. ESH4 ist nur noch eine Ruine. Eine gemein-same politische Ausrichtung gab es nie. Vielmehr war unser Vorwurf an den Regierungsrat, er habe keine Visionen. Und dass er immer nur der Billigste sein will.

Apropos Geld: Der Kanton erzielte letztes Jahr einen 50-Millionen-Überschuss. Das Ergebnis ist 65 Millionen Franken besser als budgetiert.
Als Bürger dieses Kantons freue ich mich grundsätzlich, wenn es ihm finanziell gut geht. Darum ist das eine gute Nachricht. Das Problem ist jedoch: Unsere Regierung weiss nicht, was sie mit dem ganzen Geld machen will. Keine Ahnung! Der ganze Regierungsrat ist geprägt von einer Kleinkrämer-Seele. Sie wollen nur die billigsten Jakobs sein – haben aber null Ideen, was damit anzustellen ist.

33 Millionen legt sie nun aber als Reserve an für schwierige Zeiten.
Das soll eine Idee sein? Das ist ein Witz.

Aber das ist doch zukunftsgerichtet.
Nein, nur kleinkrämerisch. Das ist der Vorwurf, den ich der Regierung mache: Sie sagt nie, was sie eigentlich will, sondern nur: «Wir dürfen keine roten Zahlen schreiben. Wir müssen billig sein. Wir müssen Steuern senken.» Warum wagt sie nicht einmal etwas Grossartiges? Etwas, wovon man sagt: Läck, es lohnt sich, nach Schaffhausen zu ziehen.

Zum Beispiel?
Einen zusätzlichen Elternurlaub. 14 Wochen, die man auf beide Eltern verteilen kann. Das kostet praktisch nichts; das sieht man ja bei der Mutterschaftsversicherung. So würden doch alle jungen Leute nach Schaffhausen ziehen wollen, um zu arbeiten. Damit wären viele Probleme der lokalen Firmen gelöst, etwa der Fachkräftemangel.

 

«Aber Schaffhausen ist halt nicht intelligent»

 

Der neue Slogan der Regierung lautet aber: «Wirtschaftsstandort stärken, Lebensstandort stärken».
Das sind hohle Phrasen.

Was müsste man stattdessen tun?
Kinderbetreuung an den Schulen einführen. «7 to 7», wie es die Initiative der AL fordert. Sprich: Von morgens um sieben bis um sieben Uhr abends werden die Kinder betreut, vom Kindergarten bis zum Ende der Primarschule. Das würde doch eine enorme Wirtschaftsentwicklung auslösen, wenn alle Eltern arbeiten könnten.
Und dann könnte man eine Hochschule gründen, und zwar keine dubiose private. Das ist natürlich nicht gratis, jeder Hochschulkanton bezahlt einiges für  seine Uni oder Fachhochschule. Aber das bringt auch viel. Rundherum entstehen neue Firmen, Arbeitsplätze, Innovationen. Darum besitzt ja jeder halbwegs gescheite Kanton eine Hochschule. Aber Schaffhausen ist halt nicht intelligent.

Jedenfalls: Mit dem riesigen Überschuss wäre es nun an der Linken, diese Forderungen aufzustellen.
Das tun wir doch immer.

Nur wäre die Position jetzt stärker, um aus der Offensive zu agieren.
Klar. Aber unsere «7 to 7»-Initiative ist ja auf dem Weg. Das wird eine entscheidende Abstimmung sein, vermutlich diesen Herbst. Eine Annahme würde uns sofort in skandinavische Dimensionen katapultieren. Das gibt es nirgends in der Schweiz. Jede und jeder zwischen 25 und 35 würde doch nach Schaffhausen kommen wollen, um zu arbeiten.

Bürgerliche würden einwenden, dass dies zu teuer sei.
Das Geld wäre schnell wieder drin. Und: Wo ist das Problem? Wenn die Bürgerinnen und Bürger das gut finden, zahlen sie auch dafür.

Wie sehen Sie die Chancen?
Für die Bedeutung des Kantons wäre es eminent wichtig. Ein Quantensprung von einer 50er-Jahre-Gesellschaft zur Gleichstellung von Frau und Mann. In meinem Leben habe ich etwa zehn Volks-initiativen geschrieben und drei davon gewonnen. Die drei Siege würde ich alle zurückgeben, wenn wir dafür «7 to 7» erhielten.

Ich sehe: Sie fühlen sich richtig wohl in Ihrer ausserparlamentarischen Rolle.
Absolut (lacht)!

Nie bereut, dass Sie Ende 2014 aus dem Kantonsrat zurückgetreten sind?
Nein, nie. Linda De Ventura macht ihre Arbeit super.

Zurück zum Thema: Die Bürgerlichen wollen den Überschuss lieber für Steuersenkungen nutzen – und nicht für Tagesstrukturen.
Wenn man die Zeichen der Zeit, die Vereinbarung von Familie und Beruf, noch nicht erkannt hat, dann muss man wohl hinter dem Mond leben. Selbst unser Regierungsrat hat das bemerkt. Und eine Vorlage zusammengebastelt. Die regt mich dermassen auf …

… Sie meinen Christian Amslers «schulergänzende Tagesstrukturen»?
Genau. Die Vorlage trägt die Handschrift eines Erbsenzählers. Er macht sie derart kompliziert und derart teuer, dass sie am Schluss gar niemand mehr will. Und die Kosten werden irgendwie zwischen den Eltern, den Gemeinden und dem Kanton aufgeteilt … ein trostloses Manöver.
Wenn du dich für Tagesschulen aussprichst, musst du sie auch finanzieren. Das ist eine kantonale Aufgabe. Heute käme ja niemand auf die Idee, dass man für die Volksschule Gebühren bezahlen muss. Amslers Vorlage wird uns in 20 Jahren prähistorisch vorkommen.

Steht das sinnbildlich für die Politik der Regierung?
Alles läuft so. Schaffhausen führt Dinge immer erst als 17. oder 23. Kanton ein, nie als erster oder zweiter. Und dann macht er es immer halbbatzig.

Der Staatshaushalt ist nach Jahren der roten Zahlen wieder im Lot. Die Politik ist doch aufgegangen.
Eine Sanierung ist keine Politik, sondern ein schicksalsergebener Nachvollzug. Jeder Kleinstverein muss Ein- und Ausnahmen im Lot halten. Der Regierungsrat betet zu Beginn des Jahres – und hofft, dass die Rechnung am Schluss aufgeht. Das ist Voodoo-Politik.

 

Florian Keller an der Demo gegen das Sparpaket ESH4, Oktober 2014. Mit: Matthias Frick (AL), SP-Nationalrätin Martina Munz, Iren Eichenberger (ÖBS), SP-Regierungsrat Walter Vogelsanger und SP-Kantonsrat Patrick Portmann (v. l.). Foto: Peter Pfister

 

Mit den Sparpaketen ESH3 und 4 wird der Kanton allerdings – gemäss Finanzdirektorin Widmer Gysel – bis 2018 um rund 40 Millionen entlastet.
Diese Sparpakete sind sowieso ein Witz. Dass man Aufgaben möglichst kostengünstig ausführt, gehört ins Pflichtenheft eines jeden Regierungsrates. Dafür braucht es keine Klausuren, keine Sondervorlagen und Pressekonferenzen. Aber anscheinend ist dies das Einzige, was die Regierung tut. Damit ist sie jedoch gescheitert: Das Volk hat alle Sparposten versenkt. Alle!

Überhaupt: In den letzten vier Jahren brachte die Regierung nur drei von 16 Vorlagen beim Volk durch.
Das ist ein Desaster! Sie hat ihren Job nicht erfüllt.

Wo sehen Sie die Anfänge dieser, wie Sie sagen, «Voodoo-Politik»?
2001 lancierte man die Strategie, sich steuerlich an den Kanton Zürich anpassen zu wollen. 2004 kamen die ersten grossen Schweinereien: die Dividendenteilbesteuerung und die Degression ab einer halben Million Einkommen. Damals war man wirklich innovativ; beide Male war Schaffhausen Pionier. Nur: Beides war verfassungswidrig. Daher musste dies abgeschafft – respektive angepasst werden.

 

«Der grösste Klumpfuss ist die Regierung»

Die Wirtschaftsförderung (Wifö) hat im Auftrag der Regierung rund 490 Firmen in den letzten 20 Jahren angesiedelt. Und letztes Jahr erzielte der Kanton Rekorderträge aus Firmensteuern.
Das hat nichts mit der Regierung zu tun. Ich bin mir sicher, dass die Wifö diese Politik längst nicht mehr mitträgt. Das ist mir hinter vorgehaltener Hand auch zugetragen worden.

Was genau wurde Ihnen erzählt?
Wenn jemand den mittlerweile zurückgetretenen Wirtschaftsförderer Thomas Holenstein gefragt hat, was das Wichtigste sei im Kanton, hat er allen gesagt: Tagesstrukturen. Er hatte eine andere Finanzierung als ich im Sinn, aber dennoch. Das wird auch bei Holensteins Nachfolger der Fall sein. Der grösste Klumpfuss, den die Wifö hat, ist der Regierungsrat.

Trotzdem: Knapp 500 Firmen kamen hierher.
Ich muss sagen: Da hat die Wifö einen überwiegend guten Job gemacht. Sicher hat sie auch Fehler begangen, besonders zu Beginn. Da kamen Firmen hierher – und sind nach zehn Jahren abgehauen, ohne je einen Rappen Steuern zu bezahlen. Daraus hat man aber gelernt und Verträge abgeschlossen, die das verhindern.

Dann war die Ansiedlungspolitik der Regierung ja erfolgreich. Das zeigen die Rekorderträge.
Ich störe mich am Wort «Ansiedlungspolitik». Eine solche würde sich ja um die grössten Probleme der Wirtschaft kümmern – sprich: qualifiziertes Personal und Kindebetreuung. Die Anlockungspolitik mit Steuergeschenken zielt aber vor allem auf Status- und Beteiligungsgesellschaften. Und je mehr davon bei uns sind, desto mehr geraten wir in Geiselhaft.
Jetzt, nach 20 Jahren Anlockung, herrscht die Logik: Verdammt, wir können nichts anderes mehr tun, als die Steuern zu senken – sonst sind die Konzerne weg. Darauf darf man doch nicht bauen als Kanton.

Das heisst, die Basis ist falsch?
Genau, und da sind wir wieder bei den Zielen: Es gibt keine bei dieser Politik. Du senkst die Steuern für eine Beteiligungsgesellschaft, und dann zieht eine zweite hierher, damit beide wieder gleich viel bezahlen wie die eine zuvor. Im besten Fall werden die Steuerausfälle gerade kompensiert. Aber was bringt das dem normalen Bürger?

Tiefere Steuern.
Das hat nicht stattgefunden. Okay, ein ganz kleiner Teil hat wahnsinnig viel Geld gespart. Aber die normalen Leute haben unter dem Strich verloren. Es ist ein Irrglaube, dass uns die Tiefsteuern für Konzerne ein Leben in Saus und Braus ermöglichen. Wie gesagt: Der Best Case ist ein Nullsummenspiel.

Und der Worst Case?
Dass man wirklich in die Bredouille gerät. Und dann kommen die Sparpakete. Sozialhilfe kürzen und so weiter – damit es den Leuten, denen es eh schon mies geht, noch mieser geht.