War Lenin in Schaffhausen?

14. März 2017, Bernhard Ott
Im «Tannenhof» sollen die russischen Emigranten um Lenin vor der Abreise ihre weiteren Pläne besprochen haben. Bild: zVg Stadtarchiv Schaffhausen

Vor hundert Jahren zwang ein Volksaufstand in Petersburg den Zaren zum Rücktritt. Damit war der Weg frei für politische Flüchtlinge wie Lenin, der seit 1914 in der Schweiz lebte. Um Lenins Rückreise ranken sich viele Legenden, eine ist aus Schaffhausen überliefert.

Wie bei den meisten Legenden gibt es auch für die Geschichte über Lenins Aufenthalt in Schaffhausen keine unmittelbare zeitgenössische Quelle, die man als Beleg heranziehen könnte. In mündlichen Erzählungen lebte die Erinnerung an das Ereignis hingegen hartnäckig weiter. Ob Lenin aber wirklich in Schaffhausen war, das soll nun näher untersucht werden.

Der einzige schriftliche Hinweis auf Lenins Besuch in der Munotstadt findet sich in der Festschrift «50 Jahre Gewerkschaftskartell» aus dem Jahr 1939. Darin zitiert der Autor, Paul Maag, den langjährigen Präsidenten der Holzarbeitergewerkschaft Franz Lehner. Lehner war 1917 Wirt des Arbeitertreffpunkts «Tannenhof» (an der Stelle des heutigen Feuerwehrzentrums) und später des Restaurants «Adler» beim Schwabentor. Aus der Distanz von 22 Jahren beschrieb Lehner die Stimmung im Revolutionsjahr 1917 und kam auch auf die Kontakte zu russischen Emigranten zu sprechen, die alle dem radikalen Flügel der Sozialdemokratie angehörten.

Der Ausbruch der Russischen Revolution sei «unter der hiesigen Arbeiterschaft mit Jubel begrüsst worden», so Lehner. Einige «hervorragende russische Genossen» hätten damals an Versammlungen des Arbeiterbildungsvereins und der Arbeiter-Union Schaffhausen gesprochen. Lehner erwähnte namentlich Karl Radek und Angelika Balabanoff, «die sich bei uns der grössten Popularität erfreuten».

Zu viel Schokolade

Lehner erinnerte sich auch an eine Begegnung mit Lenin: «Dann hielten die bolschewistischen Emigranten, als sie im April 1917 die Schweiz verliessen, bei uns im ‹Tannenhof› ihre letzte Versammlung ab, wo sie ihre nächsten Aktionen vorbesprachen.» Voller Stolz berichtete Lehner weiter, «dass Genosse Lenin ihm nach der Versammlung auf die Schulter geklopft und ihm versichert habe: ‹Genosse Lehner, wir bringen euch den Frieden›.»

Die Geschichte ist schön, aber entspricht sie auch den historischen Fakten? Wenn Paul Maag Franz Lehner richtig zitierte, muss man die Erzählung so verstehen, dass Lenin und seine 31 Reisegefährten auf ihrer Fahrt von Zürich nach Deutschland in Schaffhausen Zwischenstation machten, um hier im «Tannenhof» ihr weiteres Vorgehen zu beraten. Für diesen Unterbruch gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Sonst hätte Fritz Platten, der die Zugfahrt der Emigrantengruppe mitorganisiert hatte, in seinem 1924 publizierten ausführlichen Bericht darauf verwiesen.

Platten schrieb aber nur, dass die Rus­sen am Thaynger Zoll einen Teil der reichlich mitgeführten Schokolade abgeben mussten, weil die Menge nicht den Zollvorschriften entsprach. Ohne weitere Kontrolle fuhren sie nach Gottmadingen weiter. Dort fand ihre «Einwaggonierung in einen plombierten D-Wagen II. und III. Klasse» statt. Darauf wurden die Emigranten durch Deutschland geschleust und erreichten über Schweden Petersburg, wo sie in der Oktober-Revolution Geschichte schrieben.

Bei ihrer Ausreise aus der Schweiz am 9. April 1917 waren aber weder Lenin noch seine ihn begleitenden Getreuen bekannte Persönlichkeiten. Ihre Zugfahrt im plombierten 2.- und 3.-Klass-Wagen spielte sich ausserhalb der öffentlichen Wahrnehmung ab. Dasselbe gilt auch für die Februar-Revolution in Petersburg, die nach unserem Kalender vor genau 100 Jahren, am 8. März 1917, ihren Anfang nahm. Bis die Schaffhauser Presse überhaupt davon Notiz nahm, waren acht Tage vergangen und der Zar längst zur Abdankung gezwungen worden.

Dass es so lange dauerte, bis die Ereignisse in Petersburg in den Schaffhauser Zeitungen aufgegriffen wurden, hing einerseits mit den damaligen Informationsmöglichkeiten zusammen, andererseits mit dem Weltkrieg, der seit zweieinhalb Jahren andauerte. Zeitgleich erschienen am 16. März 1917 in den bürgerlichen Blättern «Tage-Blatt» und «Intelligenzblatt» sowie im «Echo vom Rheinfall», das der Linken nahestand, erste Meldungen über einen Aufstand in Russland.

Nur am Rand wichtig

Das «Tage-Blatt» sprach von einer «Hungerrevolte» und zitierte den russischen Gesandten in Bern, der «von nichts» wisse. Im «Echo vom Rheinfall» konnte man lesen, die Strassenkämpfe in Petersburg hätten «laut Berliner Presse revolutionären Charakter». Auf die Berliner Quellen stützte sich auch das «Intelligenzblatt», das am 16. März bereits von der Abdankung des Zaren berichtete, allerdings müsse man die Informationen aus deutschen Quellen mit Vorsicht aufnehmen, weil die Deutschen die Kriegsgegner der Russen waren.

Das Geschehen im fernen Russland war im Frühling 1917 nicht nur in den Schaffhauser Zeitungen eine Marginalie, auch die Schaffhauser Linke war nicht so elektrisiert, wie sich der «Tannenhof»-Wirt Franz Lehner im Rückblick zu erinnern glaubte. Zwar war der Umsturz in Russland an der Maifeier ein Thema, aber nur in einem Nebensatz des Hauptredners Johannes Huber aus Rorschach. Die Revolution in Russland habe gezeigt, «wessen sich die Stützen der heutigen Gesellschaftsordnung zu versehen haben, wenn sie die Zeichen der Zeit ignorieren».

So weit müsse es aber nicht kommen, denn der Schweizer Arbeiter könne mit seinem Stimmzettel Veränderungen bewirken, die im Ausland zuerst noch blutig erkämpft werden müssten. Huber schlug einen Bogen zum damaligen Volksbegehren der Schaffhauser SP, die die Einführung der Proporzwahl für den Kantonsrat verlangte, um eine gerechtere Vertretung im Parlament zu erreichen (der Kantonsratsproporz wurde allerdings erst 1956 eingeführt).

Diese Forderung war keineswegs revolutionär, es erstaunt darum auch nicht, dass die beiden bürgerlichen Zeitungen kaum auf die Maifeier eingingen und nur betonten, dass das Wetter schön gewesen sei. Sie empfanden die Linke damals noch nicht als Bedrohung, was sich jedoch nur wenige Monate später ändern sollte, als Lenins Oktober-Revolution in der Schweiz ein ganz anderes Echo fand als der Sturz des Zaren im Frühling 1917.

Haben die bürgerlichen Blätter im Gegensatz zum «Echo vom Rheinfall» wenigstens über die russische Reisegruppe berichtet, die am 9. April 1917 nachmittags um halb vier die Schweiz Richtung Deutschland verliess? Obwohl sie in der Regel über das lokale Geschehen gut informiert waren und regelmässig auffällige Transporte über die Grenze rapportierten, finden wir weder im «Tage-Blatt» noch im «Intelligenzblatt» einen Hinweis auf die 32 Russen, die in einem Zug aus Zürich den Bahnhof Schaffhausen passierten. Dass sie durchaus eine Meldung wert gewesen wären, konnte man damals noch nicht wissen. Lenins Revolution lag in der Zukunft, der Rest ist Geschichte – oder eben Legende.