Paragraph eins: Der Trainer hat immer Recht

23. Februar 2017, Kevin Brühlmann
Die Sache ist ernst: Murat Yakin soll den FCS vom letzten Platz hieven. Überzeugt genug ist der Chef allemal: «In der Theorie gewinne ich immer.»

Murat Yakin soll den FC Schaffhausen retten. Warum tut er sich das an? Wie findet sich der Grandseigneur in der Provinz zurecht? Und vor allem: Wo steckt Mutter Emine? Eine Paragraphenlehre.

Murat Yakin ist gerne der Chef, war er immer: im Fussball, in der Familie, überall. Also sagt Yakin über Yakin: «Y bin dr Boss, jä.» Diese Hierarchie ist Garantie, dass alles in seinem Sinn abläuft.

Murat Yakin weiss, was er will. Besser aber weiss er, was er nicht will: Leute, die ihm dreinreden. Er mag es nicht, bei der Arbeit gestört zu werden. Weil ihm das der FC Schaffhausen biete, sei er hierhergekommen, sagt er. Aber nicht nur. Besonders das Timing habe gepasst, ebenso die gute Infrastruktur im neuen Stadion, und ein Gespräch mit Präsident Aniello Fontana, der Mann sei mit viel Herzblut dabei, habe ihn vollends überzeugt, hier als Trainer anzuheuern.

Murat Yakin lächelt, Fältchen assortieren sich um die dunklen Augen; er sitzt auf der Trainerbank im brandneuen Stadion, Trainingsanzug, Jacke, Doppelschicht Mützen auf dem Kopf, grau melierter Fünftagebart. Er sieht frisch aus, Oberschenkel und Schultern sind fast so breit wie zu seinen Zeiten als Spieler. Neben seiner imposanten Erscheinung von 1,88 Metern wirken die FCS-Profis um ihn herum wie Buben.

Gerade hat er das Training beendet, die Stimmung im Team war ernst, Yakin war ernst – sein Team verlor am Tag zuvor gegen Servette. So kann er trotz aller Freundlichkeit nicht verbergen, dass er jetzt lieber etwas anderes täte, als Fragen zu beantworten.

Es ist ruhig im Stadion, nur Jungprofi Danilo Del Toro schiebt noch eine Extraschicht, Sprints, Schüsse, Sprints, man hört ihn schwer schnaufen. Sonst: Stille. Es ist diese Ruhe, die Yakin sucht. «Hier gibt es kein Dutzend Leute um den Verein, die alles kommentieren und sich überall einmischen.»

Für diese Ruhe verzichtet er auf eine Menge Geld. Beim FCS verdient er weniger als 10’000 Franken monatlich, kein Hungerlohn zwar, aber in der Branche eher untere Klasse. Bei Spartak Moskau hatte er mehr als das Zwanzigfache kassiert, zwei Millionen pro Jahr sollen es gewesen sein. Muratov Yakinov taufte ihn der «Blick».

Überhaupt: Moskau. Manche sagen, das Abenteuer in Russland sei ein Karriere-Killer gewesen. Einerseits arbeitete er dort nur mässig erfolgreich, andererseits das Geld: Viele andere Klubs sehen ihn nun, wie er mit einem abschreckenden Preisschild um den Hals herumläuft.

18 Monate war er ohne Job gewesen. Bis der FCS Ende 2016 auf gut Glück anklopfte. «Abstieg verhindern!» – das ist Yakins oberstes Gebot. Es ist das erste Mal in all seinen Fussballjahren, dass er sich mit sowas beschäftigen muss.

Zwischen Äckern und Nagelfluh
Vor Moskau war es nur steil bergauf gegangen in Yakins Trainerlaufbahn. Mit nur 31 Jahren beendete Yakin seine Karriere als Spieler, zu viele Verletzungen, und fing direkt an, als Coach zu arbeiten, ohne Pause. Jetzt ist er 42 und schon seit elf Jahren Coach in den obersten Ligen. Concordia Basel, Thun, Luzern, FC Basel – überall war er erfolgreich gewesen, Aufstieg, Cupfinal, Cupsieg, Meister, Europa und Champions League.
Und da stellt sich schon die Frage: Wie passt ein Grandseigneur des Schweizer Fussballs, 49 Länderspiele und siebenfacher Meister, hierher in die Provinz, zwischen die Äcker des Klettgaus, die schlafenden Pflastersteine und die Nagelfluh des Reiats – zum Tabellenletzten FCS?

Vorab: Yakin hat sich dem Fussball von unten gut angepasst, sprich: Ein Trainer, der trainiert, trägt Trainingsanzug. Das ist etwas gewöhnungsbedürftig, denn eigentlich kannte man ihn anders; meist war er in feinen Zwirn gekleidet. Er galt ja lange als Glamourboy. Teure Anzüge, teurere Uhren, teuerste Autos. Pomade auf den Lippen und Gel im Haar. Die Klatschpresse liebte ihn.

«Ach», lächelt Yakin, «das interessiert mich alles nicht.» Ausserdem hätten die Medien sonst nichts mehr zu berichten. «Das wär ja schade.»

In Schaffhausen jedenfalls hat man ihn noch nie mit Anzug gesehen. Selbst zur Bleigiessen-Gala der «Schaffhauser Nachrichten» erschien er als Einziger in Jeans und Retro-Trainingsjacke (und versprühte dennoch am meisten Glanz). Bloss die dicke Uhr am Handgelenk und das nach hinten gekämmte, glänzende Haar erinnerten an den Glamourboy von einst. Man wird sehen, wie sich Yakin weiter in der Provinz schlägt. Zum Anfang gelingt ihm das nicht schlecht. Zumindest äus­serlich. Jetzt muss der Abstieg noch verhindert werden. Es hängt viel davon ab.

Gelingt es Yakin, den FCS vom letzten Platz zu hieven, ist alles gut. Er wird – quasi mit der Brechstange wiedereingegliedert in den Arbeitsmarkt – neue Aufgaben finden, auch in höheren Ligen oder im Ausland. Anders, wenn nicht. Dann wird er vermutlich hier und dort als Coach mittelmässiger Schweizer Vereine herumgereicht werden, bis er schliesslich öfter bei Aeschbacher als im Sportstudio zu Gast ist.

Um das zu verhindern, hat Yakin einen klaren Plan mit dem FCS. Oft brütet er darüber, wenn er die 45 Minuten von Oberengstringen bei Dietikon, wo er mit Frau und Tochter wohnt, zur Arbeit fährt.

Das yakinsche Gesetz
Wie Yakin nämlich nach Schaffhausen kam, sagte er zu seinen Spielern: «In der Theorie gewinne ich immer. Aber ihr müsst mitmachen. Ihr müsst mir helfen, das Spiel zu gewinnen.» Irren ist zwar die des Menschen gemässe Form des Seins, nicht aber die des Yakins. So schreibt das yakinsche Gesetz vor: § 1 – Der Chef hat immer Recht. § 2 – Hat der Chef einmal Unrecht, tritt automatisch § 1 in Kraft.

Der FCS spielte zu Beginn der Rückrunde 2:2 gegen Aarau und verlor 2:3 gegen Servette. Zufrieden sei er nicht mit den Resultaten, meint Yakin. Fünf Gegentore, zu viel für den Defensiv-Fachmann. Offenbar haben ihn die Spieler nicht gut genug unterstützt. Doch was geschieht, wenn das yakinsche Gesetz verletzt wird? Es rumort im Gebälk, und zwar mächtig. Dazu vier Geschichten.

Als er im Sommer 2001 als Spieler zum FC Kaiserslautern wechselte, traf er auf Trainer Andreas Brehme – «den unfähigsten Coach, den ich je kennengelernt habe». Yakin stürmte ins Büro des Präsidenten und drohte: «Den Brehme werde ich bald dermassen verhauen, dass er nicht mehr weiss, wer er ist.»

Später musterte Yakin, unterdessen Coach des FC Luzern, seinen jüngeren Bruder Hakan Yakin aus dem Spielerkader. «Muri war in dieser Zeit eher etwas übermotiviert», sagt Hakan. «Das heisst konsequent», erwidert Murat. Walter Stierli, damaliger FCL-Präsident, erinnert sich: «Murat macht alles für den Erfolg.» Er brauche enorm viel Freiraum. Und: «Er ist schwierig zu führen, weiss, wie er seinen Willen durchsetzen kann.» Ob dieser Wille gleichzeitig auch seine Schwäche ist, weil er in Sturheit enden kann? Fehlt es ihm an Empathie, wie oft zu hören ist? Ist sein Umgang mit Mitmenschen zu kühl? «Schwächen hat ein Trainer nur, wenn er nicht erfolgreich ist», meint Stierli trocken.

Und dann gibt es ja noch die Episode mit Alex Frei beim FC Basel. Er hatte es gewagt, § 1 zu missachten – und wurde aussortiert, Verstoss ist Verstoss, keine Widerrede. «Einzelnen dieser Spieler war nicht ganz klar, ob ich noch immer der Kumpel oder Trainer bin», sagt Yakin heute; er hatte mit Frei zusammengespielt. Nati-Rekordtorschütze Frei beendete seine Karriere mitten in der Saison, im April 2013.

«Big Boss» Emine
Im Allgemeinen ist festzustellen, dass Murat Yakin höchstens zwei Jahre beim selben Verein blieb, meist war es gar nur eines. Beim FCS hat er für eine halbe Saison unterschrieben. Bruder Hakan assistiert ihm – diese Hierarchie besteht schon seit der frühen Kindheit der Yakins. Muri ist der Chef, Hatsch die Nummer zwei.

Wobei: Wie alles ist auch die Chefsache relativ. Der «Big Boss» sei eigentlich Mutter Emine, so Sohn Murat. Die Offizierstochter aus Istanbul, vor über 40 Jahren in die Schweiz immigriert, ist das Familienoberhaupt; alleinerziehende Mutter von acht Kindern, Grossmutter und Urgrossmutter von über 30 Enkeln und Urenkeln. Trotz ihrer 82 Jahre sei sie noch sehr fit, erzählt Murat Yakin, und oft dabei.

Emine beobachtet ihre Kinder mit Argusaugen, besonders ihre jüngsten Söhne Murat und Hakan. Gefürchtet war sie früher unter Trainern ihrer Söhne, wenn sie mit ihrem Dreirad wieder einmal zu einer unangemeldeten Privataudienz erschien. Und hätte der FCS ein Trainingslager irgendwo im Süden durchgeführt, die Mutter hätte ihn begleitet, so, wie sie das immer tat, egal ob in Basel oder Luzern, in London oder Bukarest.

Auch in Schaffhausen war sie schon mehrmals; sie wird im Eröffnungsspiel gegen Winterthur im Stadion sitzen. «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser», findet die Chefin. Darum sollte man § 3 nicht ausser Acht lassen: Das Wort «Trainer» ist im Zweifelsfall durch «Mama» zu ersetzen.