Der Rassist, der keiner sein will

19. Januar 2017, Mattias Greuter
Foto: Peter Pfister
Foto: Peter Pfister

Die «az» hat den Autor des in Flurlingen verteilten Flugblattes mit menschen­verachtendem Inhalt ausfindig gemacht und konfrontiert. Es ist P. M.*, SVP-Sympathisant. Die SVP distanziert sich nicht von seinen Aussagen.

«Dazu sage ich noch nichts», antwortet P. M.*, als ihn die «az» anruft und fragt, ob er hinter dem Flugblatt stehe, das Flurlingen in Aufruhr versetzt hat. Dennoch spricht er ausführlich mit der «az» und erläutert seine politische Haltung. Im Verlauf des Gesprächs sagt er, er gehöre möglicherweise zu den Autoren oder wisse, wer dazu gehöre. Etwas später gibt er zu: «Ich habe ganz klar mitgeschrieben.»

Kurz vor Weihnachten fand die Bevölkerung von Flurlingen ein rassistisches Flugblatt in den Briefkästen vor. Die Autorenschaft, die sich «Eine Gruppe engagierter Bürger» nennt, publiziert eine Mailadresse zur Kontaktaufnahme und kündigt an, Umfragen durchzuführen und die Ergebnisse anonym an den Gemeinderat weiterzuleiten. Zu den Themen, welche die «Engagierten» offenbar interessieren, gehören Zebrastreifen, Temposchwellen, Parkplätze, das Kinderheim und «verbotenes Hilari-Geknalle».

Rund drei Viertel des zweiseitigen Papiers befassen sich jedoch mit Ausländern, und der Text trägt die Züge einer xenophoben Hassschrift. Die Rede ist von «riesigen Mengen an unbrauchbaren, nicht integrierbaren und integriert sein wollenden Menschen». Es gehe nicht um die «tollen, netten Einwanderer, die sich um Integration bemüht haben», aber «der Rest kann und MUSS weg!». Weiter schreiben die «Engagierten»: «Ist der ganze ‹Sondermüll› mal in Europa, kann er via Personenfreizügigkeit (PFZ) einfach in die Schweiz! Zudem ist die Schweiz überbevölkert. Ein gesund schrumpfen auf 8 Millionen ist ein Muss.» Die Autoren sind offenbar der Überzeugung, dass die Kriminalität steige und die Migration dafür verantwortlich sei, die ausserdem – ein Hauptanliegen – grosse Kosten für die arbeitende Schweizer Bevölkerung verursache. Schuld daran sollen unter anderem eingewanderte Mütter sein: «Wer heute nur als Geburtsmaschine in der Schweiz herum vegetiert und laufend neue Problemfälle produziert, kriegt die rote Karte!» Die «engagierten Bürger» wollen nicht nur Ausländer ausschaffen, die kriminell werden, sondern auch solche, die ihrer Meinung nach Kosten verursachen.

Das Dorf reagiert
Flurlingen ist kein rechtes Dorf. In der Gemeinde mit knapp 1500 Einwohnern hat die SVP einen deutlich kleineren und die SP einen deutlich grösseren Wähleranteil als im Durchschnitt des Zürcher Weinlandes. Im ganzen Kanton Zürich gibt es von 171 Gemeinden nur sieben, in denen die SVP bei den letzten Nationalratswahlen schlechter abschnitt als in Flurlingen.

Einige Flurlinger reagierten empört auf das Flugblatt: mit einem Leserbrief, mit Anrufen beim Gemeinderat, mit öffentlichem Protest. An einem Genossenschaftshaus wurde ein Transparent mit der Aufschrift «Gegen Rassismus und Ausgrenzung – auch wir sind engagierte Bürger» gehisst, ein anderer Einwohner klebte das Flugblatt vor seinem Haus auf eine Kiste, strich es durch und schrieb dazu: «Wir wollen euren menschenverachtenden, braunen Dreck nicht in unserem Briefkasten!» Der Gemeinderat äus­serte sich in den «Flurlinger Notizen» deutlich: «Wir verwahren uns entschieden gegen diffamierende und diskriminierende Äusserungen. Unser Respekt gebührt denjenigen Flurlingerinnen und Flurlingern, die klar gegen die demagogischen Inhalte des Flugblattes Stellung genommen haben.» An der Gemeindeversammlung vom 11. Januar, die traditionell zugleich den Auftakt zum Hilari bildet, bestärkte Gemeindepräsident André Müller diese Haltung mit einem kurzen Statement. Im Gespräch mit der «az» sagt Müller: «Der Gemeinderat wird sich keine Minute mit Anliegen beschäftigen, die anonym vorgebracht werden.»

Mehrere Einwohner, darunter der Gemeindepräsident selbst, wandten sich an die Zürcher Kantonspolizei, die Ermittlungen aufgenommen hat.

Rassismus und Protektionismus
P. M. beharrt beim Anruf der «az» darauf, dass nicht er allein, sondern eine «Kerngruppe von etwa 15 Leuten» hinter dem Flugblatt stehe. Dennoch wird klar, dass er allein handelte oder der Kopf einer kleinen Gruppe ist. Das Flugblatt wurde nicht auf einen Schlag, sondern im Verlauf von mehreren Wochen verteilt. Laut P. M. wurden 500 Briefkästen beliefert – vier oder fünf Leute würden das an ­einem Abend schaffen. Zweitens schreibt die «Gruppe engagierter Bürger» auf ein Mail an die im Flugblatt publizierte Adresse zurück, es hätten sich über sechzig Personen für die Umfragen registriert, man müsse bald eine Teilzeitkraft einstellen, um den Mailverkehr zu bewältigen. Dennoch spricht P. M. immer in der Mehrzahl: «Wir haben uns in der Wortwahl extrem zurückgehalten», «Wir wollten mal schauen, wie viele Leute im Dorf so denken, wie wir».

«Jemand aus Syrien hat in der Schweiz nichts verloren. Er soll in die Nachbarländer flüchten.»

P. M.

Im Telefongespräch mit P. M. offenbart sich ein Weltbild voller Protektionismus, diffamierender Herabsetzung von Menschen aus Ländern ausserhalb Europas, da und dort gespickt mit Fehlinformationen. Er hat gelesen, dass nur 13 Prozent der Asylsuchenden «echte Flüchtlinge» seien: «Die meisten, die in die Schweiz kommen, sind irgendwelche Migranten, die gerne ein besseres Leben möchten und hier auf dem Sozialtopf hocken.» Die Lösung: ausschaffen. Auch die «echten» Kriegsvertriebenen will er nicht in der Schweiz haben: «Jemand aus Syrien hat in der Schweiz nichts verloren. Er soll in die Nachbarländer flüchten.» Kein Wunder, dass sich P. M. auch an der siebenköpfigen Familie aus Syrien stört, die in Flurlingen untergebracht ist.

Ausserdem ist P. M. überzeugt, dass die IV dem wegen Kontakten zum IS verurteilten Osama M. wegen seiner Gehbehinderung die Miete für ein ganzes Haus finanziert habe – was eindeutig falsch ist. Osama M. hatte als Asylbewerber keinen Anspruch auf eine Invalidenrente, und das Sozialamt zahlte lediglich die Miete für eine kleine Wohnung.

Ecopop und Todesstrafe
Die «az» spricht P. M. auf das Wort «Sondermüll» an. Seine Antwort: «Ich habe viele Polizisten und Grenzwächter kennengelernt. Wenn ich mit denen spreche, ist das Wort ‹Sondermüll› noch das harmloseste. Mit Sondermüll meinen wir nicht die Menschen als solche, sondern dass ein normal verdienender Schweizer diesen Mist mit bezahlt, die Kosten, die diese Leute verursachen.» Zum Wort «Geburtsmaschinen» sagt er: «Es geht um diejenigen Frauen, die auf dem Fronwagplatz herumlatschen, auf dem Arm ein Kind, im Wagen ein Kind, an der Hand ein Kind und eines im Bauch. Und man sieht schon am Schleier oder am afrikanischen Gewand, dass man diese Frau im Arbeitsprozess nicht brauchen kann.»

P. M. ist in seinen Aussagen nicht gerade besonnen, aber freundlich und höflich. Er denkt überraschend differenziert und informiert sich über eine Vielzahl unterschiedlicher Medienkanäle. Mit vollem Namen und Wohnortangabe hat er zahlreiche Kommentare zu Online-Artikeln des SRF verfasst, es geht ihm dabei um unnötige Bürokratie, die Ecopop-Initiative, die er ebenso befürwortet wie die Wiedereinführung der Todesstrafe, und immer wieder um Ausländer: «Hört auf, die ganze Welt zu holen und rein zu lassen! Ganz schnell und ganz radikal!» Sein Mitteilungsbedürfnis ist gross und spielt ihm beim Gepräch mit der «az» einen Streich: Mehrmals bemerkt er, er habe schon viel zu viel gesagt und habe eigentlich keine Auskunft geben wollen. «Ich gehe davon aus, dass Sie die Klientel Ihrer Zeitung anheizen müssen, folglich wird Ihr Artikel wohl nicht für uns sprechen», sagt er lachend.

«Dies kann ich zum Teil verstehen.»

Paul Mayer, Präsident SVP Weinland

Sein Redefluss will nicht enden, nach 45 Minuten beendet die «az» das Gespräch. P. M. bedankt sich und wünscht einen schönen Tag. Später liefert er per E-Mail Weiteres aus seinem Weltbild. Dazu gehört, dass man «den jeweiligen Religionen ihre Länder» geben, aber «mit dem Mischen aufhören» müsste und dass «Syrer, Afghanen, Afrikaner, Araber etc.» in ihrem Kulturkreis bleiben sollten, «das ist das Gesündeste für alle». P. M. äussert immer wieder die feste Überzeugung, dass die Mehrheit der Schweizer so denkt wie er. Er wünscht sich ein Umdenken der Politik, eine «Revolution von unten», wie es im Flugblatt heisst, die aber wenn möglich gewaltlos stattfinden sollte. «Schweizer steht auf, wehrt euch, wie es eure Vorväter getan haben», schreibt er.

SVP: Keine Distanzierung
Vieles, was P. M. sagt, erinnert deutlich an die «besorgten Bürger» und die AfD in Deutschland. Er sei nicht Mitglied einer Partei und entscheide bei jedem Urnengang neu, wen er wähle oder wie er abstimme. Auf der Webseite der SVP gibt es jedoch ein Testimonial von ihm: «Die SVP kämpft am ehesten gegen zu viele Menschen in der Schweiz und ist voll pro Schweiz! Alles andere können wir dann noch lösen!»

Die «az» legt das Flugblatt Paul Mayer vor, dem Präsidenten der SVP Weinland, und fragt ihn, ob solche Haltungen in der SVP willkommen seien oder ob er sich von einzelnen Aussagen distanzieren wolle. «Anscheinend gibt es sehr unzufriedene Bürger in Flurlingen, die sich sehr grosse Sorgen um die Zukunft der Schweiz machen», schreibt Mayer zurück. «Dies kann ich zum Teil verstehen.» Im Detail nimmt er keine Stellung und verzichtet auf jede Form der Distanzierung. Dafür spricht er die Umsetzung der Masseneinwanderung an und schliesst: «Die Schweiz tut gut daran, Mehrheitsbeschlüsse umzusetzen. Dann gibt es sicher weniger unzufriedene Bürger, auch in Flurlingen.»

Hassbotschaften an der Schule
Das Flugblatt ist nicht der erste Kontakt Flurlingens mit anonymem Fremdenhass aus dem eigenen Dorf. Im vergangenen Herbst wurden am Schulhaus mehrmals kleine Etiketten angebracht (siehe Bild). Die Sprache ist deutlich härter als im Flugblatt, die Wortwahl weist aber deutliche Parallelen auf: Auf einer Etikette steht im Bezug auf Ausländer: «Null Nutzen, nur Kosten, Probleme (…)», im Flugblatt ist über in Flurlingen untergebrachte Flüchtlinge zu lesen: «Null Nutzen, kosten Zeit, Geld und Nerven (…)». Auf einer zweiten Etikette ist von «Geburtsmaschinen» die Rede, das gleiche Wort steht auch im Flugblatt, und es handelt sich um einen Fehler: Korrekt – zumindest was die Syntax angeht – wäre «Gebärmaschinen». Obwohl bisher nur wenige Flurlinger von den Etiketten gehört haben, weiss P. M. sofort, wovon die Rede ist. Er sagt aber, er habe damit nichts zu tun.

Unter den Antworten, die er erhalten habe, gebe es «drei oder vier Wirrköpfe, die uns Hetze oder Rassismus vorwerfen». Für P. M. ist das Flugblatt jedoch nicht rassistisch: «Wir schreiben beispielsweise nicht, Neger seien schlechter als Weisse oder Gelbe oder Grüne oder Rote. Das würden wir unter Rassismus verstehen.» In einer E-Mail-Antwort schreibt er über den Rassismusvorwurf: «Hat mit uns gar nichts zu tun, da wir auch Islamies und Neger mögen, nur halt nicht bei uns und schon gar nicht auf unsere Kosten!»

«Klar rassistisch»
Kein Rassismus? Das sieht David Mühlemann, Jurist bei der Menschenrechtsorganisation Humanrights.ch, anders: «Das Flugblatt ist als klar rassistisch einzustufen: Hier werden Menschen (Flüchtlinge/Migranten) als ‹andersartig› konstruiert, verunglimpft und in ihrer Menschenwürde herabgesetzt. Die Autoren schrecken auch von einer totalen Entmenschlichung nicht zurück, indem geflüchtete Menschen als ‹Sondermüll› bezeichnet werden», schreibt Mühlemann, nachdem er das Flugblatt für die «az» geprüft hat. Weil das Flugblatt aber keinen direkten Hinweis auf eine bestimmte Rasse, Ethnie oder Religion enthalte, dürfte laut Mühlemann wohl keine Verletzung der Rassismusstrafnorm (Art. 261bis des Strafgesetzbuches) vorliegen. Anders präsentiere sich die Sachlage bei den Etiketten: Hier würden Araber, Muslime und Schwarze als Gruppe genannt, die «aufgrund ihrer Ethnie, Religion bzw. ‹Rasse› pauschal verunglimpft und massiv in ihrer Menschenwürde herabgesetzt» werden. «Eine Verletzung der Rassismusstrafnorm dürfte in Bezug auf die Etiketten eindeutig vorliegen», schreibt Mühlemann.

Das heisst: Die Anzeigen aus der Bevölkerung könnten ins Leere laufen. Wenn die Polizei, die auch zu den Etiketten Ermittlungen aufgenommen hat, allerdings nachweisen kann, dass P. M. auch dafür verantwortlich ist, könnte er zu ­einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt werden.

* Name der Redaktion bekannt

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Warum nennt die «az» den vollen Namen nicht? Ein Kommentar von Mattias Greuter

P. M.* hat einen Schritt in die Öffentlichkeit gemacht, indem er ein Flugblatt verfasste und dies gegenüber einem Journalisten zugab. Die Identität des oder der Verfasser beschäftigt die Einwohner Flurlingens, und es sind mehrere Anzeigen eingegangen. Aus dieser Sicht ist das öffentliche Interesse durchaus vorhanden, was eine Nennung des vollen Namens rechtfertigen würde.

Die Redaktion der «schaffhauser az» hat sich dennoch dafür entschieden, nur die Initialen abzudrucken. Dies aus Rücksichtnahme auf die Privatsphäre und den Schutzanspruch der Familie von P. M.