Brieftaschen aus Backwaren, Kuratorenblut und backsteingrosse Zeltli: Das Schaffhauser Stipendienatelier in Berlin war für ein halbes Jahr Spielwiese für Konzeptkünstlerin Alexandra Meyer.
Berlin bedeutet für Alexandra Meyer Zeit. Zeit, sich treiben zu lassen, in der Bahn, auf dem Rad. Zeit, innezuhalten und zu lesen. Zeit, Ideen zu entwickeln und reifen zu lassen.
Oft dauere es viele Monate, manchmal Jahre, von einer Idee bis zur Umsetzung, sagt die 32-Jährige bei Milchkaffee und Minustemperaturen auf der Atelierterrasse, Blick auf den Fernsehturm, keine 100 Meter von der Spree. Vermeintlich unproduktive Zeit ist für den künstlerischen Prozess unabdingbar, doch sie ist ein rares Gut in einer Szene, die keine Bürozeiten kennt, aber auch keinen Monatslohn.
Alexandra Meyer ist Künstlerin, ihr Leben verdient sie als Krankenschwester, trotz mittlerweile beachtlichem Lebenslauf mit Dutzenden Ausstellungen.
Jetzt, mit dem Atelierstipendium von Stadt und Kanton Schaffhausen, bleibt der finanzielle Druck für ein halbes Jahr aus. Was nicht bedeutet, dass das Leben in Berlin zum Schlendrian verkommt. «Ich musste erst lernen, dass es okay ist, am Abend nichts Visuelles zu haben», sagt die Zigeunerin – Selbstzuschreibung –, die vor Jahren von Schaffhausen nach Basel gezogen ist, ohne die alte Heimat hinter sich zu lassen. Wobei, der Output, der das geräumige Atelier in Berlin Mitte sukzessive füllt, ist nicht klein. Er passt einfach nicht so recht in ihr bisheriges, stark konzeptionelles Werk.
Geschlossene Kreise
Kohlezeichnungen dominieren das Atelier, «endlich mal wieder seriöse Kunst», wie sie augenzwinkernd sagt. Eine Technik, mit der sie vor dem Studium an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel gearbeitet und die sie jetzt wieder aufgegriffen hat. Diese Art zu arbeiten sei eigentlich wenig kopflastig, stark intuitiv, geleitet von Gefühlen und Musik. So richtig habe das anfänglich aber nicht klappen wollen, mit der Erfahrung diverser konzeptioneller Arbeiten im Hinterkopf. Es sei nicht einfach, kreative Unbekümmertheit auf Knopfdruck abzurufen, den sprudelnden Kopf abzuschalten. Schnell wurde das Zeichnen zur reflektierten Beschäftigung mit dem Medium, mit der steten Bewegung, in Analogie zu ihren Bewegungen durch die Stadt.
«Der Entstehungsprozess ist für mich zentral, nicht das Endprodukt», sagt Alexandra Meyer. Ausserdem versuchte sie, verschiedene Körper, wie sie in den vergangenen Jahren zentral waren in ihrem Schaffen, ins Zeichnen einzubauen. Das Skizzenbuch begleitete sie stets auf den Streifzügen durch Berlin. Aus einigen der Zeichnungen entstanden daraufhin Blaudrucke, Cyanotypie, ein altes, fotografisches Edeldruckverfahren, basierend auf dem anorganischen Pigment «Berliner Blau». Entwickelt hat es der Farbtüftler Johann Jacob Diesbach vor 300 Jahren in Berlin. Kreise müssen geschlossen werden. «Ich dachte am Anfang, das Zeichnen könnte ein Einstieg sein, aber irgendwie ist es geblieben.»
Ein gewaltiges Zeltli
Doch Zeichnen ist nicht alles. «Das allein reicht nicht, würde mir auf die Dauer zu langweilig.» Die Künstlerin hat kistenweise Material von Basel nach Berlin gefahren, darunter einige Langzeitprojekte. Ein Videoprojekt etwa, für welches sie Menschen filmt, die versuchen, möglichst lange die Luft anzuhalten. Parallelgeschaltet sollen die verschiedenen Sequenzen Teil ihrer Einzelausstellung sein, die die Künstlerin 2017 im Museum zu Allerheiligen bespielen wird. Die Ausstellung ist Teil des renommierten Manor Kunstpreises, den Meyer fürs Jahr 2017 gewonnen hat.
Mitten im Atelier steht ein rudimentäres Kartonmodell der Halle, darin neben den Screens mit den atemberaubten Köpfen das Papiermodell eines überdimensionalen Zeltli, an den Wänden hängen Bilder von ersten Ideen, bunten, in alle Himmelsrichtungen verzogenen Bonbons, viele Kilogramm schwer. Die Idee ging, wie viele von Meyers Ideen, vom Material aus. So auch die Portemonnaies, Necessaires und Etuis, die vorgeben, sie bestünden aus Wildleder, die von der Künstlerin aber aus libanesischem Fladenbrot zusammengenäht wurden. Die Idee kam im Restaurant. Soviel zur «unproduktiven Zeit».
The Bloody Nurse
Ein weiteres Langzeitprojekt lagert im Kühlschrank. Dutzende Ampullen Blut, Künstlerblut, fachfrauisch entnommen. Meyer greift in der Kunst gern auf ihren Background als Krankenschwester zurück. Für eine frühere Arbeit fabrizierte sie aus Eigenblut Würste. Dabei ging es ihr um die Frage nach der Grenze zwischen Mensch und Tier. Mit dem derzeitigen Projekt porträtiert sie Künstlerinnen, Kuratoren und Kunstschaffende aller Art, zapft ihnen ein paar Milliliter Herzbluts ab. Etwa im Rahmen einer Performance mit dem Künstlerduo «Milk+Wodka» in einer Bar in Berlin, wo sie den beiden als «Bloody Nurse» im klischiert-aufreizenden Ärztekittel eine Nadel in die Ellenbeuge rammte.
Wie die rund 60 Blutporträts dereinst präsentiert werden sollen, ist noch unklar. Flüssig in der Ampulle? Geronnen im Entnahmeröhrchen? Solche Entscheide brauchen – Zeit.
Empfang auf der Botschaft
Andere Werke sind bereits ausgestellt. Derzeit im Rahmen der Ausstellung «Lost In A Grindstream» in einer Berliner Galerie. Alexandra Meyer stellt dort zusammen mit dem in Berlin wohnhaften Schaffhauser Michael Stoll («Tempogarage») und ihrem Partner Daniel Karrer aus, der zeitgleich zu Meyer das Berliner Atelierstipendium des Kantons Basel-Stadt bekommen hat.
Der Kontakt mit Galeristin Isabelle Gabrijel entstand an einem Empfang in der Schweizer Botschaft in Berlin, der den Zweck hatte, die kunstschaffenden Exil-Schweizer zu vernetzen. «Eigentlich eine ziemlich skurrile Veranstaltung», sagt die Künstlerin. Doch das organisierte Drumherum des Schaffhauser Atelierstipendiums erleichtere das Ankommen und Fussfassen in Berlin ungemein. Die Wohnung ist luftig, ein Sackgeld deckt die Lebenskosten, ein Fahrrad steht bereit.
Damit geht es jetzt raus, auf einen Zigarrenbörek nach Neukölln und eine Verdauungsrunde über das Tempelhofer Feld.