Der weibliche Widerstand im Land der ewigen Gewalt

13. November 2016, Andrina Wanner
Zwischenphase: Samira Marty lebt momentan in Zürich. Foto: Peter Pfister

Die Gächlingerin Samira Marty erforschte in Guatemala die Nachwirkungen des Bürgerkriegs und Genozids, die auf der globalen politischen Agenda schlicht vergessen werden. Ihre Arbeit erscheint nun als Buch.

«Das Land des ewigen Frühlings» wird Guatemala auch genannt. Wegen des angenehmen Klimas und der schönen Natur. Doch auch nach dem Ende des Bürgerkriegs, der den mittelamerikanischen Staat über vierzig Jahre lang umklammert hielt, geht das Morden weiter. Guatemala ist zum Land der ewigen Gewalt geworden.

So beschreibt es Samira Marty im Prolog ihres Buches «Das weibliche Gesicht des Widerstands. Der Kampf indigener Aktivistinnen gegen Unterdrückung und Gewalt in Guatemala». Die Gächlingerin verbrachte im Rahmen ihres Masterstudiums zweieinhalb Monate in Guatemala, um die Aktivitäten der Maya-Frauen gegen Gewalt und Rassismus zu untersuchen.

Kritische Stimme
Es sei nie geplant gewesen, ihre Masterarbeit zu veröffentlichen, sagt die Ethnologin. Sie sei erst einmal froh gewesen, das Studium hinter sich zu haben: «Daher brauchte ich etwas Anlauf, um das Thema wieder aufzunehmen.» Durch Zufall war ein Mitarbeiter des österreichischen Verlags «Promedia» auf ihre Arbeit aufmerksam geworden. Er suche immer wieder nach jungen und vor allem kritischen Stimmen, sagt Samira Marty. Das Buch sei eine erweiterte Form ihrer Thesis und keine rein wissenschaftliche Arbeit mehr. Acht Monate arbeitete sie an den Ergänzungen und vor allem an der Übersetzung, denn die eigentliche Masterarbeit wurde in Englisch und Spanisch verfasst. «Das Buch soll auch Leuten, die keinen universitären Hintergrund haben, zugänglich sein.» Ziel des Buches sei, den weltweit vernachlässigten Kampf der indigenen Bevölkerung publik zu machen und den Aktivistinnen die Würde zurückzugeben, die ihnen gerade von internationaler Seite entzogen werde, oft aufgrund stereotyper und rassistisch geprägter Bilder. «Mit dieser Art von Kolonialismus müssen wir an unseren eigenen Unis und auch in den Medien aufräumen. Es ist mir wichtig, dass wir unser Auge schärfen gegenüber alltäglicher Gewalt und Rassismus, auch hier bei uns.» Samira Marty stiess mit ihren kritischen Ansichten teilweise auf Unverständnis. «Es ist auf jeden Fall keine Gutenachtgeschichte, sondern ein hartes Thema.»

Der vergessene Krieg
Ihren Masterabschluss absolvierte sie am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen und Entwicklung in Genf. Davor hatte sie Ethnologie und Gesellschaftswissenschaften in Basel und im schwedischen Lund studiert. Die 27-Jährige spricht fünf Sprachen fliessend und lernt gerade Persisch. Das Thema ihrer Masterarbeit war sozusagen ihr Plan B, hatte sie sich doch vorher auf westafrikanische Konflikte fokussiert, wegen des Ausbruchs von Ebola aber kein Forschungsvisum bekommen. «Mich interessieren postgenozidale Gesellschaften, also Länder, in denen ein Völkermord stattgefunden hat.» In diesem Rahmen hat sie vom relativ unbekannten und kaum erforschten Genozid in Guatemala erfahren.

Es sei nicht ganz einfach gewesen, Kontakt mit indigenen Frauenorganisationen herzustellen, sagt Samira Marty. «Ich nutzte die guten internationalen Beziehungen meiner Uni, um möglichst weit zu streuen, dass ich nach Guatemala will, aber niemanden kenne.» Über sehr viele Ecken bekam sie den Kontakt zu ihrer späteren Gastmutter und über diese den Zugang zu einer internationalen Hilfsorganisation. Bei einer Konferenz vor Ort ergaben sich dann erste Kontakte zu lokalen Aktivistinnen, gleichzeitig schrieb sie guatemaltekische Akademiker und Journalisten an. Auch nach dreimonatiger Vorbereitungszeit sei noch längst nicht alles organisiert gewesen, als sie im Januar 2015 mit einem «Auf gut Glück»-Gefühl nach Guatemala reiste.

Warum diese Gewalt?
Ihre Forschungsskizze konzentrierte sich auf das Thema «Feminizid», also den Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts – Guatemala weist die weltweit zweithöchste Mordrate an Frauen auf, zwei von ihnen werden pro Tag getötet, die Verbrechen praktisch nie aufgeklärt. «Jede Frau kann es treffen, nicht nur indigene, und jeder Mann ist ein potenzieller Täter.» Warum diese Gewalt? Der Grund sei unbekannt, sagt Samira Marty, man vermute aber einen starken Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg, der eine Umkehrung der Geschlechterrollen nach sich gezogen habe. Gewalt als Versuch, die alte Ordnung wiederherzustellen? «Da herrschen Traumata, die nie aufgearbeitet wurden. Die Kriegsverbrechen sind ein riesiges Tabu.»

In den späten Vierzigerjahren gab es in Guatemala eine linke Revolution, von der vor allem die indigenen Bauern profitierten. Zehn Jahre später kam es zum Umsturz, gefördert durch die CIA. Unter dem folgenden Militärregime wurde das ideale Feindbild des linken, indigen aussehenden Bürgers konstruiert. Der Mord an Hunderttausenden von Guatemalteken begann, Massenvergewaltigungen wurden gezielt als Kriegswaffe eingesetzt, um die Fruchtbarkeit der Frauen auf Jahrzehnte zu zerstören. Man sagt, dass 95 Prozent der Frauen im nördlichen Quiché, wo Samira Marty geforscht hat, vergewaltigt worden seien. «Und das traf tatsächlich auf alle Frauen zu, mit denen ich zusammengearbeitet habe», sagt sie. «Die indigene Frau rückte in den Fokus meiner Forschungen.» Sie habe auch Einsicht in Polizeiarchive erhalten, diese Massaker seien alle extrem gut dokumentiert, ähnlich wie unter den Nazis. Die Frauen sähen sich allerdings nicht als Opfer dieser Vergewaltigungen, sondern verwendeten den Begriff «Überlebende», das sei ihr wichtig zu betonen, sagt Samira Marty: «Sie bezeichnen sich ganz klar als Überlebende des Genozids, um diesen in Erinnerung zu halten und anzuprangern.»

Alltäglicher Rassismus
Mit der Zeit habe sich gezeigt, dass die Gewalt im Land nur die Spitze des Eisbergs sei, das Problem vielschichtiger: «Es ist mehr als ‹nur› dieses ständige Damoklesschwert, Opfer des Feminizids zu werden, das die Aktivistinnen umtreibt. Es sind die tägliche Diskriminierung und der Rassismus gegen die indigene Bevölkerung, auch vonseiten der Hilfsorganisationen, die sie eigentlich unterstützen sollten, aber voller stereotyper Vorurteile sind.» Den Rassismus bekam Samira Marty am eigenen Leib zu spüren, wenn sie mit indigenen Aktivistinnen unterwegs war und als eine von ihnen wahrgenommen wurde: «Niemand machte Platz, man versperrte uns den Weg, nichts war mehr möglich, was sonst kein Problem war.» Mit diesem offenen Rassismus habe sie nicht gerechnet, sicherheitspolitisch sei ihr aber sehr wohl bewusst gewesen, auf was sie sich einlasse, sagt sie: «Ich habe mir im Vorfeld ein Sicherheitsnetz aufgebaut, konnte die Gefahr durch bestimmte Massnahmen einschränken, war in Kontakt mit der Botschaft und auch mit einer Psychologin, mit der ich über Skype immer wieder bewusst über meine Schwierigkeiten gesprochen habe, um eine Traumatisierung zu vermeiden.» Trotzdem gab es Lücken, vor allem in der Kommunikation. Sie war oft in gefährlichen Gebieten unterwegs, ein Smartphone habe sie nie dabeigehabt, denn Überfälle endeten eigentlich immer tödlich: «Die Präsenz von Waffen in Guatemala ist wieder ein anderes Thema.»

Von den lokalen Aktivistinnen wurde die Studentin positiv aufgenommen. Es sei nicht alltäglich, dass jemand aus dem Ausland sich so für den Kampf der Frauen interessiere. Viele hofften, über die junge Schweizerin eine Stimme zu erhalten – jemand hörte ihnen zu, das wollten sie nutzen: «Sie sahen mich als Sprachrohr für ihr Anliegen – ich aber wollte keine falschen Hoffnungen wecken und musste oft betonen, dass ich nicht die UNO sei, sondern nur eine kleine Forscherin.» Die gemeinsame Zeit habe sie zusammengeschweisst: «Wir haben viel gelacht – trotz oder gerade wegen der schwierigen Umstände.»