«Da läuten die Alarmglocken»

5. August 2018, Marlon Rusch
Der Kanton weiss bereits, wie das neue Gebäude aussehen soll. Visualisierung: Vorlage der des Regierungsrats
Der Kanton weiss bereits, wie das neue Gebäude aussehen soll. Visualisierung: Vorlage der des Regierungsrats

In Kürze soll der Bau des 98 Millionen Franken teuren Polizei- und Sicherheitszentrums ausgeschrieben werden. Doch nicht – wie üblich – in einem Wettbewerb. Fachleute sind empört.

Noch ist die Handbremse angezogen. Doch sofern das Bundesgericht mitspielt und in absehbarer Zeit über eine noch hängige Abstimmungsbeschwerde entscheidet, wird Kantonsbaumeister Mario Läubli am 21. September eines der grössten Bauprojekte ausschreiben, das Schaffhausen je gesehen hat: das neue Polizei- und Sicherheitszentrum. Kostenpunkt: 98 Millionen Franken.

Den Inhalt der Ausschreibung könne er derzeit noch nicht kommentieren, sagt Läubli, doch bestätigt er, dass das Projekt im sogennanten «Planerwahlverfahren» ausgeschrieben werden soll. Und das lässt aufhorchen.

Als Stefan Cadosch von der «az» vom Vorhaben des Kantons Schaffhausen erfährt, den Bau des neuen Polizei- und Sicherheitszentrums ohne klassischen Architekturwettbewerb zu vergeben, zeigt er sich schockiert. «Da läuten natürlich die Alarmglocken.»

Cadosch ist Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins. Der SIA ist der massgebende Berufsverband, über 16’000 Mitglieder gehören ihm an. Er steht für Baukultur und ist vor allem bekannt für seine zahlreichen Normen, Ordnungen, Richtlinien, Empfehlungen und Dokumentationen, die für die schweizerische Bauwirtschaft eine anerkannte und unverzichtbare Institution darstellen. Bereits 1877 publizierte der SIA sein erstes «Reglement der Concurrenzen».

Eine der besagten Ordnungen, SIA 142, widmet sich dem Architekturwettbewerb. Er wird angewendet, um für ein Bauprojekt eine bauliche Lösung zu finden – verschiedene Planerteams konkurrieren um die beste architektonische Idee. Der SIA sagt, Wettbewerbe sollten bei Neubauvorhaben durchgeführt werden, möglichst anonym, möglichst offen für alle Interessierten. Der Gestaltungsspielraum ist gross – möge die beste Idee gewinnen.

Ein anderes Vorgehen ist das Planerwahlverfahren, im Gegensatz zum 100-jährigen Wettbewerb ein relativ neues Vorgehen. Planerwahl kommt gemäss SIA bei «kleineren Bauaufgaben», Instandsetzungen und Umbauten infrage, die zu klein sind für einen Wettbewerb. Meist greift der Bauherr bei der Wahl des Auftragnehmers auf bereits bestehende Kontakte zurück. Die Arbeit muss ab einem bestimmten Volumen aber regulär ausgeschrieben werden.

Beim Planerwahlverfahren ist bereits vieles vorgegeben. Der Besteller sucht in erster Linie ein Team, das die Vorgaben umsetzt. Man sucht keine Lösung, sondern eine Leistung, eine Ausführung.

Die SIA-Ordnungen sind nicht juristisch bindend, es sind lediglich Empfehlungen. Ihre Stossrichtung wird jedoch landauf, landab umgesetzt. So bezieht sich etwa das Hochbauamt der Stadt Zürich oder die Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren des Bundes in Wegleitungen auf ihren Webseiten explizit auf die SIA-Normen.

Der Kanton Schaffhausen jedoch tut mit seinem 100-Millionen-Projekt genau das Gegenteil. «Ein Planerwahlverfahren für ein Neubauprojekt dieser Grössenordnung – so was habe ich in der ganzen Schweiz noch nicht gesehen», sagt SIA-Präsident Cadosch. Bei einem Bau von solcher Bedeutung sei es «spektakulär», dass der Kanton nicht von selbst auf die Idee komme, einen Wettbewerb zu lancieren.

Alles Ausreden?

Kantonsbaumeister Mario Läubli, der Vater der Ausschreibung, ist mit den SIA-Ordnungen vertraut. Er ist selbst SIA-Mitglied. Er sagt, es gebe gute Gründe, warum sich der Kanton für ein Planerwahlverfahren entschieden habe. Im Gegensatz zum geplanten Neubau des Spitals habe man sich nicht für einen Wettbewerb entschieden, weil das Sicherheitszentrum an der Peripherie gebaut werde und nicht in einem dicht bebauten Wohnquartier zu stehen kommt. «Beim Spital war die Situation diffiziler», sagt Läubli. Im Industriegebiet könne man sich auf die Funktion des Gebäudes fokussieren.

Des Weiteren suche man nicht nur einen Architekten, sondern einen ganzen Tross von Fachleuten – alles in allem Spezialisten aus 18 Gattungen –, die das Projekt zusammen realisieren sollen.

Und es sei nicht möglich, in einem linearen Prozess zuerst ein Raumprogramm zu definieren und die Planer dann machen zu lassen. Es brauche ein ständiges Abgleichen der Machbarkeit mit den Bedürfnissen der Leute, die das Gebäude künftig nutzen werden. Gefängnis, Polizei, Staatsanwaltschaft, Verwaltung.

Ein weiterer Punkt: Es sei nicht zielführend und volkswirtschaftlich nicht tragbar, hundert Architekturbüros Tausende Stunden gratis arbeiten zu lassen, um sich dann für eines zu entscheiden.

Das klinge tendenziell nach Ausflüchten, findet Stefan Cadosch. Auch bei Bauvorhaben auf der grünen Wiese brauche es eine richtungsweisende Planung. Und jedes grosse Bauprojekt bedürfe eines ganzen Trosses von Spezialisten, das sei kein Hinderungsgrund für einen Wettbewerb. Ausserdem sei der Wettbewerb für viele Büros das wichtigste Instrument, um an attraktive Aufträge zu kommen.

«Sehen Sie», sagt Cadosch, «mit einem Planerwahlverfahren kauft man bezüglich architektonischer Qualität die Katze im Sack. Selbst Stararchitekten können mal einen schlechten Tag erwischen beziehungsweise ein schlechtes Projekt.» Nur bei einem Wettbewerb habe man die Gewähr für eine echte Auswahl zwischen innovativen Lösungen für eine architektonische Fragestellung.

Cadosch vermutet, der Kanton Schaffhausen wolle sich mit dem Verfahren schlicht ein aufwendigeres Verfahren einsparen. Doch solche Überlegungen seien oft Trugschlüsse. «Man geht das Risiko ein, ein Projekt zu bekommen, das nicht hält, was es verspricht.» Unsorgfältige Architektur funktioniere oft auch schlecht und bringe Folgekosten mit sich. Mario Läubli selbst bestreitet, dass man mit dem Planerwahlverfahren Kosten oder Zeit sparen könne im Vergleich zu einem Wettbewerb. Die Entscheidung habe rein inhaltliche Gründe.

So oder so: Cadosch ist davon überzeugt, dass die Architekten und ihre Vertreter in Zürich auf die Barrikaden gehen würden, wenn man ein solches Projekt «am Wettbewerb vorbeischmuggeln» wollte. Zum einen, weil ein Projekt dieser Dimension wegen seiner Attraktivität eine hohe Zahl an Wettbewerbsteilnehmern garantieren würde. Zum anderen, weil ein solcher architektonischer Meilenstein nach der bestmöglichen Architektur verlange.

Und der Schaffhauser SIA?
In Schaffhausen ging niemand auf die Barrikaden. Dabei hat der SIA eine Schaffhauser Sektion. Cadosch ist erstaunt, dass er von dieser nicht über das Projekt und seine Vergabe informiert wurde. Geschweige denn, dass die Sektion etwas unternommen habe. Denn auch wenn bis anhin nicht bestätigt war, dass das Projekt im Planerwahlverfahren ausgeschrieben werden soll: die Anzeichen dafür waren klar sichtbar. Seit eineinhalb Jahren.

Die Machbarkeitsstudie, die das renommierte Architekturbüro Bob Gysin + Partner vorab erarbeitet hat, ist sehr detailliert. Kantonsbaumeister Mario Läubli sagt selbst, sie habe «den Charakter eines Vorprojekts». In der Vorlage des Regierungsrats sah man genaue Pläne und Renderings der künftigen Gebäude. Fachleute konnten bereits damals erkennen, dass in erster Linie ausführende Kräfte gesucht sein werden.

Für einen anderen SIA-Präsidenten jedoch ist das alles kein Problem. Michael Frey, seines Zeichens Bauingenieur und Präsident der Schaffhauser Sektion, widerspricht dem Präsidenten des SIA Schweiz und den Normen seines eigenen Vereins diametral: Das Polizei- und Sicherheitszentrum sei ein Spezialfall, da es «äusserst anspruchsvollen betrieblichen Abläufen» gerecht werden müsse. Das Planerteam habe für die Testplanung über mehrere Monate hinweg mit den künftigen Nutzern die Bedürfnisse und Sicherheitsaspekte abgewogen. Die Abläufe seien enorm komplex. Die Erstellung eines Wettbewerbsprogramms für ein Polizei- und Sicherheitszentrum sei «um ein Vielfaches schwieriger und dadurch auch fehler­anfälliger» als bei anderen Bauten. Bei ­diesem Gebäude, so Frey, gehe es in erster Linie um den Betrieb und nicht um die ­Architektur.

Ihm widerspricht das Schaffhauser Architekturforum sch-ar-f, das sich ebenfalls eingehend mit dem Projekt befasst hat. Vorstandsmitglied Roland Hofer sagt, der von Ingenieuren dominierte SIA Schaffhausen scheine ihm etwas «zahnlos» zu agieren. Das möge auch an der Schaffhauser Kleinräumigkeit liegen. Man kenne sich, und die Vorstandsmitglieder des SIA Schaffhausen seien auch selbst immer wieder daran interessiert, Projekte der öffentlichen Hand zu realisieren.

Präsident Michael Frey selbst hat den Zuschlag für den Bau der Schiessanlage bekommen, die zwar vorab ausgeschrieben und separat vergeben wurde – jedoch auch Teil des neuen Polizei- und Sicherheitszentrums ist.

Für einen Wettbewerb, schliesst Roland Hofer, sei es trotz allem noch nicht zu spät. Grosse Hoffnungen sollte er sich jedoch nicht machen. «Die Ausschreibung ist pfannenfertig», sagt Kantonsbaumeister Läubli.

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Die Abnicker vom SIA

Ein Kommentar von Marlon Rusch

Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA ist seit fast 200 Jahren die Instanz für gute Baukultur. Der SIA definiert Leitplanken, sagt, wie gebaut werden soll. Das ist sein Kerngeschäft. Und diese Leitplanken werden von Gemeinden, Kantonen und vom Bund genauso hoch geschätzt wie von Architekturbüros, Ingenieurfirmen und privaten Berufsleuten. 16’000 von ihnen bekennen sich mit einer SIA-Mitgliedschaft ganz offiziell zum Verband und zu
seinen Idealen.

Einer von ihnen ist der Schaffhauser Kantonsbaumeister. Doch dieser Mann plant, das 100 Millionen Franken schwere Polizei- und Sicherheitszentrum, das grösste Bauprojekt des Kantons seit Ewigkeiten, diametral gegen die Richtlinien des SIA auszuschreiben. Er will einen klassischen Wettbewerb umgehen.

Der SIA ist empört. So was, sagt sein Präsident, habe er in der ganzen Schweiz noch nicht erlebt. Doch dann bekommt der Kantonsbaumeister Schützenhilfe von unerwarteter Seite: vom Präsidenten des SIA Schaffhausen.

Dieser nimmt den Kantonsbaumeister in einer an die «az» adressierten Stellungnahme in Schutz und erklärt, es gebe triftige Gründe dafür, dass der Kanton gegen die SIA-Richtlinien verstosse.

Was ist hier gerade passiert? Der Präsident eines Branchenverbands argumentiert offensiv gegen die Interessen der eigenen Branche, des eigenen Dachverbands?
Um das zu verstehen, muss man sich den SIA Schaffhausen etwas genauer ansehen:

Zuerst ist da ein fünfköpfiger Vorstand, dem nur ein einziger Architekt angehört.Und den Ingenieuren kann es egal sein, wie ein Bauprojekt ausgeschrieben wird. Es sind die Architekten, denen die Chance auf einen Auftrag verwehrt bleibt, wenn es keinen Wettbewerb gibt.

Dann ist da die Kleinräumigkeit. In Schaffhausen ist es oft schwierig, Fachleute zu finden, die sich bereit erklären, in einer Wettbewerbs-Jury einzusitzen. Oft arbeiten sie selbst in einem Büro, das sich bewerben möchte.

Der Präsident des SIA Schaffhausen etwa musste kürzlich wieder aus der Jury für den Wettbewerb des Stadthausgevierts austreten, weil sein Büro mitmachen wollte.

Nun baut sein Büro die Schiessanlage des neuen Polizei- und Sicherheitszentrums. Auftraggeber: Der Kantonsbaumeister.

Man kann den SIA-Präsidenten verstehen. Natürlich hat er keine grosse Lust, den Kanton zu kritisieren für die Vergabe eines Projekts, an dem er selbst mitbaut.

Man muss sich vielleicht die Frage stellen, ob die Sektion so überhaupt eine Daseinsberechtigung hat. Lobbyiert sie wirklich für die hehre Sache – für gute Architektur? Oder nickt sie bloss ab, um ja nicht anzuecken?

Ist dies der Fall, wäre es höchste Zeit, dass frische Kräfte in den Verein drängen – kritische, unbefangene Architektinnen und Architekten.