Merkwürdige Methode

7. Mai 2018, Marlon Rusch
Polizeikommandant Kurt Blöchlinger glaubte ganz genau zu wissen, was zu tun war.

Der ausserordentliche Staatsanwalt Hans Maurer hat die Ermittlungen gegen Polizeikommandant Kurt Blöchlinger eingestellt. Er hat eine einzige Person befragt: Kurt Blöchlinger.

Das Dokument, das der Zürcher Sonderstaatsanwalt Hans Maurer im Auftrag des Schaffhauser Regierungsrates in den vergangenen neun Monaten angefertigt hat, umfasst 17 Seiten. Und die Überschrift steht synonym für die Quintessenz: «Einstellungsverfügung». Die Untersuchung im Zusammenhang mit zwei umstrittenen Zahlungen in der Polizeirechnung, über die die «az» im September 2017 berichtet hat, wird fallengelassen – Kommandant Kurt Blöchlinger kann aufatmen.

Der Sachverhalt in aller Kürze: Das kantonale Bedrohungsmanagement hat den Auftrag, gefährliche Entwicklungen von Personen frühzeitig wahrzunehmen. Und zu handeln. Das Bedrohungsmanagement soll verhindern, dass ein Bürger austickt und völlig ausser Kontrolle gerät wie etwa der Amokläufer von 2001 im Zuger Parlament.

Der Fall F. ist ein ziemlich langwieriger und komplizierter Fall. Um die Situation zu entspannen und F. vor einer Zwangsvollstreckung zu bewahren und zu beruhigen, wurde dafür gesorgt, dass er Geldstrafen und Bussen von rund 12’000 Franken nicht bezahlen musste. Das Geld wurde aus dem Budget der Schaffhauser Polizei genommen. Das ist grundsätzlich nicht erlaubt. Der für F. zuständige Case Manager, der die Massnahme eingeleitet hat, war Polizeikommandant Kurt Blöchlinger.

Nun kommt Sonderstaatsanwalt Maurer zum Schluss, die Ermittlungen sollten eingestellt werden. Die Gerichte werden nicht bemüht, der Fall ist geschlossen.

Sonderstaatsanwalt Hans Maurer hat die Untersuchung eingestellt.

Wie Sie auch auf dem Seite-2-Kommentar der Printausgabe vom 4. Mai lesen können, ist die Sache für die «az» damit noch nicht gegessen. Wir haben uns den Bericht von Sonderstaatsanwalt Maurer genauer angeschaut.

Als Erstes fällt auf, dass gegen eine «unbekannte Täterschaft» ermittelt wurde. Unter «Beteiligung» wird hingegen ausschliesslich Polizeikommandant Kurt Blöchlinger aufgeführt. Die Untersuchung wurde wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch und Begünstigung eingeleitet, wie die «az» bereits vor über einem halben Jahr vermutet hat. Es könne «nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass ein strafrechtlich relevanter Vorgang» bestehe, so die offizielle Begründung für die Untersuchung.

«Erklärungsbedürftig»
Die Einstellungsverfügung zeigt auch, wie Maurer vorgegangen ist: Er studierte Akten. Einerseits einen Bericht des Finanzdepartements der damaligen Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel, die, wie sich herausstellen sollte, die Zahlungen selbst in Auftrag gegeben hat – aber dazu später mehr. Ausserdem studierte Maurer einen Bericht der Finanzkontrolle (Fiko), der Revisionsstelle der kantonalen Verwaltung, die nach verschiedenen Hinweisen im April 2017 aktiv geworden war. Die Fiko ist ebenfalls Widmer Gysels Finanzdepartement unterstellt. Drittes Dokument: Ein «strukturiertes Interview», das Kommandant Blöchlinger der Fiko gegeben hatte.

Das sind mehrheitlich Entlastungsschriften. Darüber hinaus hat der Sonderstaatsanwalt Maurer nur ein einziges Gespräch geführt: mit Polizeikommandant Kurt Blöchlinger.

Der Jurist Patrice Zumsteg, der an der Universität Zürich zum Polizeirecht forscht und der «az» geholfen hat, die Einstellungsverfügung einzuordnen, findet das «erklärungsbedürftig». Um sich einen unabhängigen ersten Eindruck zu verschaffen, sei es in solchen Situationen eigentlich gang und gäbe, sich einen umfassenden Eindruck zu verschaffen und dabei belastendenden und entlastenden Aussagen gleichermassen Gehör zu schenken.

Die polizeiliche Generalklausel
Inhaltlich sind Maurers Ergebnisse in zwei Themen gegliedert. In einem ersten Teil geht es um den Verdacht auf Amtsmissbrauch.
Blöchlinger hat das Case Management von F. höchstselbst übernommen, weil er gemäss eigenen Aussagen gemerkt habe, dass er einen guten Zugang zu F. habe, wenn er ihm richtig zuhöre.

F. habe in der Verwaltung seit längerer Zeit «Angst und Schrecken» verbreitet. Bei seinen Gerichtsverhandlungen seien immer mehrere Polizisten aufgeboten worden. Nun habe eine Zwangsversteigerung von F.s Haus gedroht, was die Situation gemäss Blöchlinger hätte eskalieren lassen. F. habe «irgendwie klargemacht, er werde sich in die Luft sprengen, wenn man ihm das Letzte wegnehme».

Daraufhin habe er, Blöchlinger, bei Regierungsrätin Widmer Gysel beantragt, dass F. seine Schulden von 12’000 Franken nicht bezahlen müsse. 901 Franken davon, die F. dem Kanton Zürich überweisen sollte, wurden aus dem Budget der Polizei entnommen. 10’900 Franken Geldstrafe, Busse und Staatsgebühr im Kanton Schaffhausen wurden gemäss Blöchlinger «so hinterlegt, dass es zu keiner Betreibung kommt». Blöchlinger sagt, wenn F. je in der Lage sei, das Geld zurückzuzahlen, würde man es einfordern. Schriftlich und damit rechtskräftig wurde dies aber nie festgehalten.

Ein wichtiger Punkt, der durch Maurers Bericht belegt wird: Beschlossen hat die Zahlungen offiziell Regierungsrätin Widmer Gysel. Im September 2017 hatte sie den Medien noch gesagt, es handle sich um eine einzige Zahlung mit einem «tiefen dreistelligen Betrag». Nun ist klar: Sie wusste alles.

Der Bericht der Finanzkontrolle sagt klar, es gebe «keine ausreichende rechtliche Grundlage für eine Vornahme von solchen Auszahlungen/Verbuchungen».

Doch damit liegt noch keine Straftat vor, denn es gibt die sogenannte «polizeiliche Generalklausel».

«Unmittelbar drohende Gefahr»
Die «polizeiliche Generalklausel» ist ein ungeschriebener Grundsatz des Verfassungsrechts – das ist in der Hierarchie ganz weit oben. Der Grundgedanke dahinter ist, dass der Staat handeln können muss, auch wenn es keinen expliziten Paragraphen gibt, der dieses Handeln legitimieren würde. Die Generalklausel ist auf Notsituationen beschränkt. Patrice Zumsteg von der Universität Zürich schränkt aber ein, dass sie nicht als «Ruhekissen für den Gesetzgeber» dienen darf.

Das Problem: Wenn die Polizei mit dieser Generalklausel jegliches Handeln legitimieren kann, wird sie für den Bürger unberechenbar. Aus diesem Grund haben die Kantone Polizeigesetze geschaffen. Doch Schaffhausen hat seine Hausaufgaben nicht zufriedenstellend erfüllt, es müssen noch immer diverse Teilbereiche von der Generalklausel abgedeckt werden.

Damit die Generalklausel greift, müssen sechs «Anwendungsvoraussetzungen» erfüllt sein. Und diese sechs sind bei besagten Zahlungen gemäss Sonderstaatsanwalt Hans Maurer erfüllt.

Er sieht eine «zerfahrene Situation», die «flexible Ansätze» bedinge. Der wichtigste Punkt: Man habe eine «unmittelbar drohende Gefahr» abwenden müssen. Ausserdem schreibt Maurer, der «Schulden-Aufschub» sei ein «adäquates Mittel zur Deeskalation» gewesen. Wegen der zeitlichen Dringlichkeit habe es einen «grossen Ermessensspielraum» gegeben.

Der Tatbestand des Amtsmissbrauchs sei aus diesen Gründen «nicht erfüllt».

Regierungsrätin Rosmarie Widmer Gysel wusste alles und hat die Zahlung abgesegnet.

Pikantes Detail: Damit die Generalklausel greift, muss die Behörde «im Rahmen ihrer Zuständigkeit» handeln. Hätte Blöchlinger angeordnet, dass die Busse bezahlt wird, hätte er seine Zuständigkeit wohl überschritten. Insofern musste die Zahlung von Regierungsrätin Widmer Gysel angeordnet werden.

Keine Begünstigung
Der zweite Verdacht lautet auf Vollstreckungsbegünstigung. Hier argumentiert Maurer simpel. Er führt zwar Lehrmeinungen an, die das Gegenteil behaupten, die «herrschende Lehre» jedoch sage Folgendes: «Die Bezahlung einer Busse oder einer Geldstrafe […] aus dem Vermögen eines Dritten erfüllt den Tatbestand der Vollstreckungsbegünstigung nicht.»

Ausserdem handle es sich bei der grös­seren der beiden Zahlungen um die «Gewährung eines Darlehens».
Dass Maurer die «herrschende Lehre» einleitend gegen andere Lehren abgrenzt, dürfte ein Hinweis darauf sein, dass die Sache nicht ganz so eindeutig ist. So hat etwa das Bundesgericht am 1. Juni 2011 eine Beschwerde von fünf Gemeinderäten abgewiesen, die eine Busse aus Angst vor dem Gebüssten aufgehoben haben. Sie hatten argumentiert, «es liege keine Vollstreckungsbegünstigung vor, wenn vom Vollzug einer rechtskräftig verhängten Busse abgesehen werde». Das Bundesgericht widersprach.

Hans Maurer selbst sagt gegenüber der «az», die Angelegenheit sei «vom Strafrecht her nicht ganz fassbar». Dass das Verfahren nun eingestellt wird, liegt zumindest in einem Spannungsfeld mit der Aussage von Patrice Zumsteg. Dieser sagt, bei einer zweifelhaften Rechtslage sei grundsätzlich ein Gericht einzuschalten. Das hat Staatsanwalt Maurer nicht getan.